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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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alles zahlen, was er den Juden angetan hat.«
    Sein Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. »Krieg?«, wiederholte ich erschrocken. Da war es wieder, dieses Wort, das schon in Mrs Collins’ Büro gefallen war.
    »Ja, weißt du es denn nicht? Diese Woche sind die Deutschen in der Tschechoslowakei einmarschiert. Erst Österreich, dann die Tschechoslowakei … und was kommt als Nächstes? Polen vielleicht? Holland? Belgien? Überall dort leben Juden. Die Welt wird sich zusammentun und ihnen helfen. Bald wird sie nicht mehr anders können. Und dann gibt es Krieg.«
    Mir verschlug es die Sprache. So hatte ich das noch nie gesehen. Krieg war in meiner Vorstellung immer etwas Fürchterliches, Angstmachendes gewesen, etwas, worüber mein Vater noch über zwanzig Jahre später nicht sprechen wollte. Doch was Gary sagte, ließ mit einem Mal ein völlig anderes Licht darauffallen. Plötzlich konnte ich die ganze Welt vor mir sehen, die sich in Bewegung setzte, um den Juden zu helfen. Kleine schwarze Truppen marschierten wie Ameisen aus allen Richtungen über einen großen runden Globus, wie er in Papas Arbeitszimmer gestanden hatte, und trafen sich in Deutschland, bis nichts mehr zu sehen war als ein einziges entschlossenes Gewimmel, das Hitler unter sich erstickte.
    Und dann konnten wir alle zurückkehren: Thomas und ich, Professor Schueler, Walter Glücklich und die Seydenstickers. Mein Vater würde nicht als Butler arbeiten, meine Mutter keine Köchin werden müssen. Wir würden unsere Wohnungen zurückbekommen und niemand, niemand würde mehr Angst haben müssen vor einem Klopfen in der Nacht.
    Nur flüchtig schoss ein kleiner Zweifel durch meinen Kopf: Wieso sollten all die Länder, die die Juden in der Not nicht aufnehmen wollten, uns zu Hilfe kommen?
    Doch sofort fiel mir ein, dass sie, wenn sie Hitler besiegten, uns ja gar nicht würden aufnehmen müssen. Sie würden nicht einmal mehr von unseren Briefen und Ausreiseanträgen belästigt werden, denn dann konnten wir ja in Deutschland bleiben! Es war in unser aller Interesse, dass Hitler verschwand. Natürlich würden sie uns helfen.
    Und Gary, mein Bruder Gary, würde dabei sein!
    »Eins, zwei, drei!«, zählte er plötzlich und zeigte auf die Sterne, die mit einem Mal vom Himmel blitzten. »Auf geht’s! Zeit für die Hawdala!«
    Dass ich bei der Hawdala-Zeremonie, die den Schabbat-Ausgang begleitete, eine nicht unwichtige Rolle hatte, wusste ich schon und hielt als jüngstes Kind die Kerze mit einigem Stolz, als der Segen darüber gesprochen wurde. Und so wie der Schabbat mit dem Gruß »Schabbat Schalom« begonnen hatte, kannte ich auch bereits die Worte, mit denen man sich an seinem Ende eine gute Woche wünscht: »Schawua tov!« Ich hatte das Gefühl, dass ich den Segen in der kommenden Woche besonders gut würde gebrauchen können. Gleich am Montag nach dem Schulmittagessen wollte ich anfangen, an Haustüren zu klingeln und nach einer Arbeitsstelle für meine Eltern zu fragen. Je näher der Montag rückte, desto mehr graute mir davor, obwohl ich es gleichzeitig kaum erwarten konnte, endlich damit zu beginnen.
    Ich war froh, als Gary sich zu mir beugte und mir etwas zuflüsterte, was mich sofort ablenkte: »Es gibt noch ein zweites Geheimnis! Ich habe dich das ganze Wochenende beobachtet und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich es riskieren kann!«
    »Was denn?«, flüsterte ich begierig und warf seinen Eltern, die Kelch, Kerze und die Schale zum Löschen des Lichts an ihren Platz zurückräumten, einen verstohlenen Blick zu.
    Gary legte einen Finger an die Lippen und zog mich die Treppe hinauf in sein Zimmer. Auf dem Weg dorthin nahm er ein kleines Buch aus dem Wohnzimmerregal mit. Als er es aufschlug, blickte ich verdutzt auf viele hebräische Zeichen. »Das ist eine Haggada, eine Pessach-Liturgie«, klärte er mich auf. »Pessach wird um dieselbe Zeit wie euer Ostern gefeiert, weil es das Fest ist, das Jesus in der Nacht vor seinem Tod noch begangen hat.«
    »Jesus?«, wiederholte ich. »Was hat denn Jesus mit einem jüdischen Fest zu tun?«
    Jetzt war es an Gary, verdattert dreinzusehen. »Was sollte er als Jude denn sonst feiern?«
    Ich war vom Donner gerührt. »Sag bloß, du weißt nicht, dass Jesus Jude war?«, fragte Gary. »Er war ein Rabbi aus Galiläa und hat viel Gutes getan. Wir Juden glauben nur nicht, dass er der Messias ist, auf den wir warten.«
    Ich schüttelte nur stumm den Kopf. Ich konnte es nicht fassen. Jesus, ein Jude! Selbst mein

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