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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Religionslehrer in Neukölln hatte das mit Sicherheit nicht gewusst, sonst hätte er es doch irgendwann einmal erwähnt! Dass die Juden Jesus umgebracht hatten, hatte ich oft genug gehört, aber dass er einer von ihnen, von uns gewesen war, musste dabei vollkommen untergegangen sein. »Du meinst, er hat all das gemacht, was ihr macht?«, vergewisserte ich mich aufgeregt. »Schabbat gefeiert und koschere Sachen gegessen und zum Beten Tefillin angelegt und … und vielleicht sogar Mesusen geküsst?«
    »Mesusot«, verbesserte Gary. Plötzlich sah er sehr ernst aus. Ich griff nach dem Buch in seiner Hand. »Und was ist mit diesem Hagga-Dings?«, fragte ich eifrig.
    »Mit diesem Hagga-Dings lernst du deinen Part für die Sederfeier. Du hast noch genau zwei Wochen Zeit.«
    »Zeit für was?«
    Er grinste. »Für eine Riesenüberraschung. Dein erstes öffentliches Solo auf Hebräisch!«

8
    Ich lauschte meinem Brief nach, als er durch den Schlitz tief nach unten fiel und mit einem leisen Plumps in der großen roten Briefkastentonne landete. Eine ganze Woche hatte ich gebraucht, um ihn zu schreiben, hatte Passagen gestrichen und wieder neu zusammengebaut und mir das Endergebnis sogar laut vorgelesen. Die Briefe an den Premierminister, das Flüchtlingskomitee, das Rote Kreuz und die evangelische Kirche, in denen ich um Hilfe für meine Eltern bat, waren mir, sobald ich einmal damit angefangen hatte, wie von selbst aus der Feder geflossen, aber der erste Brief an Mamu nach der Sache mit Bekka hatte sich als richtig hartes Stück Arbeit herausgestellt. Was ich in den Kasten warf, musste die siebte oder achte Version sein und bestand aus so vielen Seiten, dass ich das doppelte Porto hatte aufkleben müssen. Und kaum war der Umschlag durch den Briefschlitz verschwunden, ging mir auf, dass ich schon wieder einen Fehler gemacht hatte.
    Die ersten beiden Seiten bestanden aus einer geradezu schwärmerischen Darstellung meines Lebens in London: wie gemütlich mein Zimmer war und dass ich nicht mehr nur Garys, sondern inzwischen auch schon ein paar eigene Sachen darin hatte. Dass ich mich jeden Morgen auf die Schule freute, eine Uniform tragen durfte und die rechte Hand des Klassenlehrers war. Dass Juden in England nicht nur Kinos besuchen durften, sondern die Shepards sogar ein Kino besaßen! Auch daran, ab und zu ein englisches Wort einfließen zu lassen, hatte ich gedacht, so als wäre ich bereits dabei, die deutsche Sprache zu vergessen.
    Aber was am meisten an Mamu nagen würde, das hoffte ich zumindest, waren die drei Seiten, die mit meiner Pflegemutter zu tun hatten.
    Mrs Shepard beschreiben? Das kann man gar nicht! Ich könnte sagen, dass sie braune Haare, grüne Augen und ein hübsches Gesicht hat, aber das heißt nicht viel, oder? Stell dir jemanden vor, der einfach außergewöhnlich ist, Englisch, Hebräisch und Jiddisch spricht und auf alles eine Antwort weiß, weil sie über 600 Gesetze kennt. Ich hatte doch schon erwähnt, dass die Shepards orthodox sind? (Ich wusste genau, dass ich nichts dergleichen getan hatte!) Und obwohl das orthodoxe Leben so kompliziert ist, hat Mrs Shepard immer Zeit für mich.
    Letzte Woche zum Beispiel waren wir downtown, weil meine Berliner Sachen nach der ganzen Zeit hier schon so abgetragen sind. Ich durfte mir selbst aussuchen, was ich haben wollte und Mrs Shepard machte es großen Spaß, für mich einzukaufen. Auch meine English lessons machen Spaß. Wir lesen zusammen ein Buch, und zwar laut, damit ich sowohl die Schrift als auch den Klang lerne. Mrs Shepard spricht mir die Worte vor und ich spreche ihr nach. Ich hoffe, dass ich später auch eine so schöne Stimme bekomme wie sie.
    Und wusstet ihr, dass es eine Mizwa, ein jüdisches Gesetz ist, gute Taten zu begehen? Mrs Shepard hilft zweimal die Woche in einem jüdischen Altenheim, ohne Bezahlung, und ich habe vor, demnächst einmal mit ihr hinzufahren. Einige alte Leute dort sprechen nur Deutsch und Jiddisch und sind ganz einsam.
    Euch lässt Mrs Shepard fragen, ob ihr etwas dagegen habt, wenn sie vor dem Zubettgehen ein jüdisches Nachtgebet mit mir betet. Es ist ein sehr schönes Gebet gegen böse Träume und übles Grübeln und es hilft auch, ich habe wirklich seit Wochen nicht mehr geträumt! Ich habe Mrs Shepard gesagt, dass ihr bestimmt nichts gegen dieses Gebet habt, wenn ich euch schreibe, dass Jesus Jude war! Das wusstest ihr auch nicht, stimmt’s? Sonst hättet ihr mir doch bestimmt gesagt, dass wir sogar doppelt

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