Liverpool Street
dass ich meine Sache für den Anfang recht gut gemacht hatte. Zwar hätte ich noch kein domestic permit für meine Eltern erlangt, aber doch immerhin eine Menge über das Klingeln an fremden Haustüren gelernt.
»Aber seitdem war ich an so vielen Türen«, wandte ich ein, »und alle hatten entweder schon eine Hilfe oder wollten niemanden fest einstellen. Meine Mutter könnte sofort eine Stelle als Putzfrau haben, aber nur für ein paar Stunden pro Woche und das reicht nicht, um ein Visum zu bekommen. Ich muss größere Häuser finden. Richtig reiche Häuser!«
»Ich verstehe nicht, warum du deine Pflegeeltern nicht um Hilfe bittest«, bemerkte Professor Schueler. »Sie sind doch sehr gut zu dir, oder nicht?«
Das ist es ja gerade, dachte ich bedrückt.
»Du sagst, sie besitzen ein Kino? Das heißt, dass sie vielen Leuten begegnen. Da müsste es ihnen doch möglich sein, sich einmal für dich umzuhören!«
»Es ist ein ziemlich kleines Kino«, murmelte ich.
Aber Professor Schueler, der an seinem gewohnten Platz am Fenster saß und mir wieder eine Tasse Schokolade bestellt hatte, hörte nicht auf, die verschiedensten Wege zu entwerfen, auf denen die Shepards etwas für meine Eltern tun konnten. Einige dieser Möglichkeiten waren mir selbst auch schon in den Sinn gekommen und ich fühlte mich fürchterlich, weil ich vielleicht eine wichtige Gelegenheit ausließ. Doch ich war einfach zu feige, die Shepards, die schon so viel für mich taten, um irgendetwas Zusätzliches zu bitten.
Die letzten beiden Tage hatten mir wieder deutlich gezeigt, dass ich es nicht fertigbringen würde. Alle infrage kommenden Häuser in der Nähe meiner Schule waren abgeklappert, ich würde meinen Radius ausweiten müssen, aber wie sollte ich das anstellen, ohne dass es auffiel? Schon zweimal war ich zu spät zu den Englischstunden mit Mrs Shepard gekommen und ich konnte ihr ansehen, dass sie sich zu wundern begann, warum ich von Tag zu Tag länger für den Heimweg von der Schule brauchte. Also hatte ich vorgestern all meinen Mut zusammengenommen und nachgefragt: »Haben Sie eigentlich noch ein altes Fahrrad?«
»Natürlich! Wir haben Garys Kinderrad!«, sagte sie sofort. »Komm, wir sehen gleich nach!«
Das Fahrrad stand im Geräteschuppen, leicht angerostet und mit platten Reifen, aber ansonsten tadellos. Und als ich gestern aus der Schule gekommen war, hatte es vor dem Haus auf mich gewartet, geputzt und geflickt und mit einer neuen Klingel versehen. Unter den Augen von Mrs Shepard hatte ich eine Proberunde gedreht, war freihändig gefahren, wild herumgekurvt, hatte mein Geschick in jeglicher Hinsicht bewiesen …
… und sie umso besorgter vorgefunden, als ich wieder am Gartentor haltmachte. »Du musst mir versprechen, dass du vorsichtig fährst«, hatte sie mir eingeschärft. »Kein Freihändigfahren, kein Knien auf der Lenkstange! Du hältst an, bevor du die Straße überquerst, und wenn viele Autos fahren, bleibst du auf dem Gehweg! Deine Eltern haben dich uns nur ausgeliehen und wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass sie dich heil zurückbekommen.«
Ausgeliehen! Nach dem Zubettgehen hatte ich noch eine Weile wach gelegen, war sogar noch einmal aufgestanden, um im Wörterbuch nachzusehen, ob ich mich nicht verhört hatte. Mrs Shepard sprach immer weniger Jiddisch und immer mehr Englisch mit mir, und da stand es schwarz auf weiß: to borrow … ausleihen.
Was wollte sie bloß damit sagen? Ich selbst hatte mir erst wenige Dinge ausgeliehen, aber es waren allesamt Dinge, auf die ich neugierig gewesen war, Dinge, die ich selbst gern gehabt hätte. Kostbare Dinge. Wie konnte jemand mich ausleihen wollen? Nein, das konnte unmöglich ihr Ernst sein.
Und dennoch: Wider alle Vernunft ertappte ich mich dabei, wie ich das verführerische Wort seitdem immer wieder hervorholte. Es hockte einfach da, zwischen all den anderen Gedanken, und machte ab und zu einen freudigen kleinen Sprung nach draußen – vor allem dann, wenn es gerade nicht passte. Selbst Professor Schuelers berechtigte Mahnung, dass es mir eines Tages möglicherweise leidtun würde, meine Pflegeeltern nicht um weitere Hilfe gebeten zu haben, wurde von ihm übertönt.
Ausgeliehen! Hallo, du? Ja, du! Herzlichen Glückwunsch, du bist ausgeliehen worden!
Ich musste dem Professor ins Wort fallen, um das Wort zum Schweigen zu bringen. »Übrigens gehe ich morgen selbst ins Kino«, sagte ich. »Dr. Shepard zeigt Kinderfilme in einem Saal im East End und da darf
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