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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Seite, während wir fuhren. Dr. Shepard hatte rötliches Haar, eine blasse Haut mit Sommersprossen und ziemlich große Hände, die entspannt auf dem Steuerrad lagen. Er sah sanft und mitfühlend aus und ich hielt es für sehr wahrscheinlich, dass er heimlich in seiner Vorführkabine mitweinte, wenn er einen traurigen Film zeigte.
    Plötzlich fand ich es gar nicht mehr seltsam, mit ihm allein zu fahren. Plötzlich begann ich sogar darüber nachzudenken, dass er und Papa Freunde werden konnten, wenn meine Eltern erst in England waren! Ich sah mich durch ein Gartentor zwischen zwei Grundstücken wechseln; in dem einen Haus lebten meine Eltern, in dem anderen Gary, Tante Amanda und Onkel Matthew, und in welchem Haus mein Zimmer war, wusste ich gar nicht zu sagen … vielleicht hatte ich ja ein Zimmer in beiden! Vielleicht hatten sie mich erst ausgeliehen und dann geteilt …
    Doch halt! Da war es wieder, »mein« Wort, und brachte mich schnell wieder zur Vernunft. Geteilt, so ein Quatsch. Als ob ich nicht wusste, zu wem ich gehörte! Und überhaupt, wer wollte schon geteilt werden?
    Ich konzentrierte mich lieber auf den Weg, denn wir fuhren nun quer durch London auf die Themse und die Hafenanlagen zu und die Stadt nahm ein gänzlich anderes Gesicht an. Die Häuser wurden niedriger, die Straßen schmaler, weniger Autos, Taxen und Busse und immer mehr Fußgänger waren unterwegs. Ich sah Pferdewagen und Fahrräder, die Anhänger hinter sich herzogen, es gab kleine Verkaufsstände mitten auf dem Gehweg und Feuerstellen mit Kesseln darüber, wo Passanten warmes Essen kaufen konnten. Die Menschen sahen müde aus. Kräne und Fabrikschornsteine erhoben sich riesenhaft gleich hinter den niedrigen Dächern und wehten einen beißenden Geruch herüber. Trotzdem waren aus vielen Häusern Wäscheleinen quer über die Straße gespannt, an denen traurige, abgewetzte Kleider hingen.
    »Das Armenhaus Londons«, sagte Dr. Shepard bedauernd.
    In einer Straße mit niedrigen Häusern, in denen allesamt kleine Schneiderläden untergebracht zu sein schienen, entdeckte ich zu meiner Aufregung plötzlich Juden mit Bärten und schwarzen Mänteln, die aussahen wie Herr Seydensticker! Chassidim, erklärte Dr. Shepard. Zahlreiche bettelarme Einwanderer aus Osteuropa lebten hier, die nur Jiddisch sprachen und mit Engländern so gut wie nie in Kontakt kamen. Und auch ihre Kinder gingen nicht zur Schule, sondern mussten den ganzen Tag in Fabriken und kleinen Hinterhofläden mitarbeiten.
    Die Kinder, die vor einer flachen grauen Halle mit trüben Fenstern bereits auf uns warteten, sahen trotz allem sehr fröhlich aus. Viele neugierige Blicke folgten mir, als ich meine Wechselgeldkasse hinter Dr. Shepard her durch die Eingangstür trug. Drinnen erkannte ich, dass es sich um eine Turnhalle handelte, in der wir nun in Windeseile noch Stühle und eine Leinwand aufbauen mussten. Zwei größere Jungen halfen dabei; sie kannten das wohl schon und gingen einfach mit uns hinein, ohne auch nur zu fragen. Als sie mir Blicke zuwarfen, erklärte Dr. Shepard, dass ich ein jüdisches Kind aus Deutschland sei und seit einigen Wochen bei seiner Familie lebte. Die beiden nickten mir kurz zu und ich meinte, Neid in ihren Augen zu sehen. Rasch wandte ich mich ab und schob umständlich einige Stühle umher, obwohl sie ganz ordentlich in der Reihe standen, nur damit die Jungen sahen, dass ich mich nützlich machte.
    Mein Kassentisch wurde gleich neben der Eingangstür aufgestellt. Dr. Shepard und die Jungen schleppten den Projektor herein, bauten ihn auf und stellten Verdunkelungspappen in die Fenster. Schon drängten die Zuschauer in den Vorraum und hielten mir erwartungsvoll ihre Pennies entgegen. Meine Hände zitterten beim Abreißen der Karten, wohl weil das alles so unglaublich war. Ich hatte Angst vor fremden Kindern – und wenig Hoffnung, dass sich das je ändern würde –, doch hier saß ich am Tisch und verkaufte einer wahren Hundertschaft von ihnen Kinokarten, hörte, wie sie »Thank you« zu mir sagten, und sah respektvolle Blicke. Ich wünschte, dass meine Eltern hier sein und mich sehen könnten!
    »Hallo, Ziska! Bei dem Ansturm heute werde ich dir wohl einen Platz frei halten müssen«, sagte plötzlich jemand auf Deutsch und ich brauchte ein paar Sekunden, um zu merken, dass diese Worte nicht zu meinem kurzen Tagtraum von Mamu und Papa gehörten. Dass es ein anderer Traum war, der sich da erfüllte.
    Denn der Junge, der in einem abgetragenen

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