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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Mantel, mit einem blitzenden Penny in der Hand und einem breiten Grinsen vor mir stand, war Walter Glücklich.
    Dr. Shepard saß auf einem Hocker neben seinem Vorführgerät und winkte mir zu, nachdem ich meine Kasse geschlossen hatte. Wahrscheinlich hatte auch er einen Stuhl für mich reserviert und war sehr verblüfft, als ich zurückwinkte und mit der größtmöglichen Selbstverständlichkeit durch den Mittelgang weiter nach vorne ging, wo ein großer Junge eifrig neben sich deutete. Ich kletterte über eng zusammengedrängte fremde Knie und überlegte, ob mir schon einmal irgendjemand außer Bekka einen Platz frei gehalten hatte.
    »Mensch, Ziska, was machst du hier?« Walter stieß mich vor Begeisterung in die Seite.
    Das Licht ging aus, ein leises Raunen huschte durch die Reihen, aus den Lautsprechern knackte es. »Dr. Shepard ist mein Pflegevater«, flüsterte ich Walter zu. »Die Winterbottoms haben mich nicht abgeholt. Vielleicht sollte ich ihnen dafür einen Dankesbrief schreiben!«
    »Absolut! Das ist unglaublich!«, stimmte Walter mir zu.
    »Und du?«, fragte ich. Laute Musik setzte ein, über die Leinwand flimmerten Namen.
    »Leider weniger lustig«, meinte Walter. »Ich arbeite in derselben Schneiderei wie mein Vater, zwölf Stunden am Tag, träume schon von Reißverschlüssen! Das soll angeblich mal der große Schrei werden und Hosenknöpfe ersetzen, aber Englisch werde ich auf die Weise nie lernen.«
    »Mir bringt es meine Pflegemutter bei. Und mein neuer Bruder, der ist schon siebzehn und heißt Gary.«
    »Sind sie nett zu dir?«
    »Und wie! Sie sind orthodox!«
    »He, ihr zwei!« Ein Junge, der hinter uns saß, tippte mir auf die Schulter. »Könnt ihr mal aufhören, die Köpfe zusammenzustecken? Ich sehe nichts!«
    Walter und ich fuhren auseinander. Ich merkte, wie meine Wangen ganz heiß wurden. Die Köpfe zusammenstecken! So ein Blödmann! Wenn ich die Vokabeln gewusst hätte, hätte ich sie ihm an den eigenen doofen Kopf geworfen!
    Und ausgerechnet jetzt fielen mir natürlich an die zweihundert Dinge ein, die ich gern auf der Stelle von Walter gewusst hätte. Ob er an den Krieg gegen Hitler glaubte, was er von England hielt, was seine Lieblingsfächer in der Schule gewesen wären, wenn er noch hingehen dürfte und und und. Es war schon komisch, mit jemandem befreundet zu sein, den man eigentlich noch gar nicht kannte. Aber auch im Dunkeln und ohne zu reden war es schön, neben Walter zu sitzen.
    »Na, wie war der Film?«, fragte Dr. Shepard anderthalb Stunden später, während die anderen Kinder lärmend aus dem Saal strömten. Er legte seine Filmrollen in ihre silbernen Hüllen zurück und warf Walter, der hinter mir stand, einen neugierigen Blick zu.
    Ich antwortete nicht. Was hätte ich auch sagen können? Ich war überzeugt, dass es weder auf Deutsch noch auf Englisch eine Erklärung gab für das, was ich soeben erlebt hatte! Ich war ein Landstreicher gewesen, der in denselben Londoner Straßen, durch die wir am Nachmittag gefahren waren, ein ausgesetztes Kind entdeckt hatte; ich war der kleine Junge gewesen, der den lustigen schnauzbärtigen Pflegevater ganz fest ins Herz geschlossen hatte. Ich hatte mit den anderen Kindern gelacht und gebrüllt, als die beiden sich durch allerlei Mut und Trickserei zu essen und ein Dach über dem Kopf besorgt hatten.
    Ich hatte den Atem angehalten, erschüttert, ratlos, als die inzwischen reich gewordene Mutter zurückkehrte, um ihr Kind wieder zu sich zu nehmen. Was soll ich tun? Soll ich mitgehen? Viele Kinder, auch ich, weinten mit dem Jungen, als der Landstreicher tat, als wolle er ihn plötzlich nicht mehr haben. Und mir zersprang fast das Herz in der Brust, als das vornehme Auto der Mutter noch einmal zurückkehrte und die Tür sich öffnete, sich öffnete für den kleinen Landstreicher, damit auch er mitfahren und bei seinem Jungen bleiben konnte.
    All das hatte in den silbernen Filmrollen gesteckt, die Dr. Shepard mitgebracht hatte! Voll stiller Freude lächelte er mich an, als er meinen staunenden Blick bemerkte, und es dauerte einige Augenblicke, bis ich mich so weit erholt hatte, dass ich sagen konnte: »Dr. Shepard, das ist Walter Glücklich. Er war auch auf meinem Kindertransport.«
    Walter und Dr. Shepard schüttelten einander die Hand. »Du musst uns mal besuchen kommen, Walter!«, meinte Dr. Shepard freundlich. Er sprach den Namen Wolter aus. »Alle Freunde von Frances sind uns jederzeit willkommen!«
    Walter blickte ein wenig

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