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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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zwischen Jesus, meinen Eltern und mir, wie jüdisch ich sein wollte. Und so war ich an diesem Morgen mit dem klaren Wissen aufgewacht, dass ich bis zur Mittagsstunde, wenn alles Gesäuerte aus dem Haus verbannt sein musste, meinen Frieden mit der Mesusa zu machen hatte.
    Wie einfach es war! Ich hatte mich so davor gefürchtet. Doch kaum hatte ich es hinter mich gebracht, kam es mir vor, als flüsterte mir jemand die Antwort auf all meine Fragen ins Ohr.
    Du brauchst sie nicht zu küssen. Du darfst sie auch einfach nur berühren. Und dann wirst du dich jedes Mal daran erinnern, dass ihr zu demselben Gott gehört, Juden und Christen, und dass er da ist.
    Da war auf einmal eine Helligkeit in mir, etwas Leichtes, Schwebendes, etwas wie Dankbarkeit, aber doch nicht ganz. Als ob ich froh wäre, ich zu sein. So etwas hatte ich noch nie gefühlt und ich war überzeugt, man müsse es mir in irgendeiner Weise anmerken, aber Mrs Shepard und Millie waren so sehr mit ihren praktischen Vorbereitungen beschäftigt, dass ihnen gar nicht auffiel, dass sie ein völlig anderes Kind vor sich hatten!
    »Nun, Millie«, sagte Mrs Shepard, nachdem ich fertig gefrühstückt hatte, und packte die restlichen Toastbrotschnitten in eine Tüte.
    Millie grinste. »Sagen wir zwei Shilling, wie letztes Jahr?«
    »Ach Millie, wie gut, dass wir uns immer wieder einig werden«, erwiderte meine Pflegemutter und nahm das Geld entgegen.
    An diesem Morgen trödelte ich extra ein wenig im Flur herum, um Mrs Shepard die Gelegenheit zu geben, zu sehen, wie ich beim Hinausgehen die Mesusa in der Haustür anfasste. Aber sie kam einfach nicht aus der Küche.
    »Also, ich gehe jetzt!«, rief ich schließlich.
    »Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang!«, rief sie scherzhaft zurück.
    Also waren es wieder nur Gott und ich. Mit einem Lächeln der Verschwörung tippte ich an die Mesusa und sprang die zwei Stufen zum Vorgarten hinunter, wo mir mit einem weiteren kleinen Glücksschub auffiel, dass mein Mantel an diesem Morgen zum ersten Mal zu warm war, dass es tatsächlich endlich Frühling wurde!
    Meinen Frieden mit Mamu verschob ich vorerst. Um ihr verzeihen zu können, dass sie glaubte, ich hätte Spaß , würde ich einfach noch mehr Glück sammeln müssen.
    Dass ein Brief des Premierministers im Hause Shepard für Aufregung sorgen würde, hatte ich in meinem Bestreben nach Geheimhaltung gar nicht bedacht. Meine Post vom Flüchtlingskomitee und der Kirche hatten sie noch kommentarlos geschluckt, als ich erklärte, die wollten sich lediglich erkundigen, wie es mir ging. Aber ein Brief aus der Downing Street …! Als ich an diesem Tag aus der Schule kam, wartete der dicke Umschlag in der Schale neben dem Telefon und Mrs Shepard und Millie schossen aus der Küche, als hätten sie seit Stunden nach mir Ausschau gehalten. »Frances! Du hast Post vom Premierminister!«
    Sie stellten sich so dicht neben mich, dass ich mich ganz umzingelt fühlte, obwohl sie nur zu zweit waren. »Ich weiß«, sagte ich möglichst gleichgültig, aber insgeheim wog ich den Brief in der Hand und versuchte abzuschätzen, was sein Gewicht mir über den Inhalt verriet.
    Die Antworten, die ich vom Flüchtlingskomitee und der Kirche erhalten hatte, waren sehr freundlich gewesen.
    Liebe Franziska, wir freuen uns für dich, dass du einen Platz auf einem Kindertransport erhalten hast und bei einer englischen Familie leben darfst. Dass du deine Eltern sehr vermisst, verstehen wir gut, und sicher ist dir bewusst, dass das Flüchtlingskomitee/die evangelische Kirche bereits sehr viel unternimmt, um die Situation der noch in Deutschland lebenden Juden zu erleichtern. Einzelnen Personen Aufenthaltsgenehmigungen zu verschaffen, liegt leider nicht in unserer Hand, doch vielleicht tun sich in deinem jetzigen Umfeld Möglichkeiten auf. Hast du schon einmal von dem domestic permit gehört? Damit werden Frauen und Männer in private Dienstbotenverhältnisse aufgenommen, die den britischen Arbeitsmarkt nicht belasten, etwa in eine Anstellung als married couple mit Koch- und Hausarbeiten für die Ehefrau und Gärtner- und Butlerdiensten für den Mann …
    Und so weiter und so weiter. Nichts, was ich nicht schon wusste. Doch der Brief des Premierministers war so dick und schwer, dass mein Herz schmerzhaft zu klopfen begann. Der Umschlag fühlte sich genauso an wie der, in dem Mamu unsere Papiere für Shanghai aufbewahrt hatte! Vielleicht enthielt er ja schon alles, was ich brauchte! Ausweiskarten

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