Liverpool Street
wahrscheinlich mehr brauchte, um jemanden umzuhauen, der schon einen Brand auf seinem Kopf hinter sich hatte!
»Es gab einen kleinen Unfall«, erklärte Mrs Shepard ihrem Sohn. Sie saß vor der Frisierkommode und bearbeitete eine alte langhaarige Perücke mit Bürste und Schere. Ich war enttäuscht, dass sie nicht einfach in ihren viel hübscheren echten Haaren blieb, aber sie hatte mir erklärt, das gehöre sich nicht.
Gary starrte die zerrupfte alte Perücke entsetzt an. »Ich dachte, ich könnte sie vielleicht abschneiden«, bemerkte seine Mutter verzagt.
Wir sagten nichts. Wir konnten beide sehen, dass ihr Vorhaben zu keinem brauchbaren Ergebnis führen würde. Ich überlegte kurz, ob ich die Schuld auf mich nehmen und erklären sollte: »I fired her«, aber es hörte sich nicht richtig an, also hielt ich lieber den Mund.
»Mum, was ist in dich gefahren?«, stöhnte Gary. »Ausgerechnet heute!«
Mrs Shepard warf ihm einen harten, strengen Blick zu und erst jetzt erkannte ich, wie erschöpft sie war. Die letzten Tage hatten für sie und Millie hauptsächlich aus Putzen, Kochen und Backen bestanden und beim Blick in die Speisekammer konnten einem die Augen übergehen. Da waren Knödel aus Kartoffeln, Knödel aus Käse, Markknödel, Matzeknödel und Leberbällchen, verschiedene Suppen, Hühnchen, ein Braten mit köstlichen Füllungen, eine Torte aus Matzenmehl und die vorgeschriebenen Zutaten für die Sedertafel. Herd und Backofen waren ausgeglüht worden, damit nicht die geringsten Speisereste verblieben, und das Pessachgeschirr, das nur zu diesem Anlass verwendet wurde, nach Vorschrift gereinigt.
Auch das Esszimmer erstrahlte in völlig neuem Glanz: das beste Tischtuch, dazu das beste Geschirr, fünfundzwanzig Weingläser, vier für jede Person und eins für den Propheten Elia … alles war perfekt, bis auf den kleinen Unfall.
»Es wird ohnehin keinen Unterschied machen«, sagte Mrs Shepard mit ungewohnter Härte in der Stimme. Sie wandte sich wieder ihrer Perücke zu, bürstete und schnitt wütend daran herum und Gary sah einen Moment ganz hilflos aus. »Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte er leise.
Aber Mrs Shepards Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war. »Ach was«, meinte sie, nahm die Perücke mit einem verächtlichen Griff vom Frisierkopf und warf sie mir zu. »Ich setze einen Hut auf. Hier, Frances, damit kannst du dich an Purim verkleiden.«
Zu meiner Bestürzung sah ich Tränen in ihren Augen. »Und ich fürchte, du kommst auch nicht ganz ungeschoren davon«, fügte sie hinzu und streckte zögernd die Hand nach mir aus.
Ich gehorchte blind. Seit der Episode am Kleiderschrank ging etwas Unerklärliches mit mir vor. Ich hatte danach nicht schnell genug von Mrs Shepard wegkommen können, hatte mich im Wohnzimmer, auf der Treppe, selbst im Garten herumgetrieben, beschämt und verwirrt über meinen Ausbruch und sehnlichst wünschend, die Umarmung ungeschehen machen zu können – und dabei die ganze Zeit nichts anderes getan, als fieberhaft über alle möglichen Ausreden nachzusinnen, um wieder in ihre Nähe zu kommen! Als Mrs Shepard die Hand nach mir ausstreckte, fühlte ich mich wie erlöst.
Allerdings nahm sie nur behutsam mein kleines Kreuz und steckte es zwischen den zwei oberen Knopflöchern meiner Bluse hindurch, bis nur noch die Kette zu sehen war. »Es wäre besser, das nicht so sichtbar zu tragen. Garys Großeltern sind sehr streng, weißt du.«
»Ich kann es nicht abnehmen. Es ist von meiner Mutter«, murmelte ich und starrte auf ihre Hand.
Sie sagte: »Du brauchst es nicht abzunehmen. Sie müssen es nur nicht gleich sehen …«
Es klang beinahe entschuldigend. Komisch, dass ausgerechnet Mrs Shepard, die solche Freude am Jüdischsein ausstrahlte, Angst hatte vor einem kleinen Kreuz … aber wie die Dinge standen, hätte ich wohl nichts ausschlagen können, worum sie mich bat. »Ich habe doch noch die Bluse mit dem hohen Kragen«, schlug ich vor. »Die ziehe ich an, dann sieht man gar nichts mehr, nicht mal die Kette.«
»Gute Idee«, entgegnete meine Pflegemutter mit einem schmallippigen, gezwungenen Lächeln, das ich nicht ganz verstand, denn ich hatte das Gefühl, ihr ziemlich weit entgegengekommen zu sein. Aber sie wusste wohl einfach nur, wovon ich noch nicht das Geringste ahnte: dass die Vermeidung von Pannen ihr nicht helfen würde, überhaupt nicht.
Garys Großeltern, so viel hatte ich schon mitbekommen, kamen nur einmal im Jahr zu Besuch, zu Pessach
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