Liverpool Street
eben ein«, erwiderte ich, »soll er doch selbst sagen, was er ist.«
Aber ich behielt natürlich Recht: Walter kam nicht, obwohl wir die Einladung auf seinen Vater ausdehnten, ja er antwortete nicht einmal auf meinen kurzen, verlegenen Brief. Dafür erhielt ich in den Tagen vor dem Pessachfest einen Brief von Mamu, der mit keinem einzigen Wort auf die sorgsam formulierten kleinen Warnungen einging, die ich ihr beim letzten Mal hatte zukommen lassen.
»Offenbar hattest du noch keine Gelegenheit, etwas in unserer Angelegenheit zu unternehmen«, schrieb sie. »Aber Papa ging es schon sehr viel besser, als er lesen konnte, wie viel Spaß du in England hast.«
9
Das kleine Röhrchen in meinem Türrahmen sah harmlos genug aus, trotzdem wartete ich, bis außer mir niemand mehr im Obergeschoss war: Dr. Shepard bei der Arbeit, Mrs Shepard und Millie in der Küche. Heute beim Aufwachen hatte ich beschlossen, es endlich zu tun! Es war mir wie ein großer, entscheidender, wohldurchdachter Schritt vorgekommen, aber wie ich so in meiner Tür stand, kam ich mir doch ziemlich albern vor.
Was war denn schon dabei? Kühn streckte ich die Hand aus und tippte für den Bruchteil einer Sekunde an die Mesusa. Dann sauste ich triumphierend nach unten, warf mich mit einem lauten »Guten Morgen!« auf meinen Frühstücksplatz, kippte das Glas Orangensaft, das dort auf mich wartete, in einem Zug herunter und atmete tief durch.
Millie und Mrs Shepard sahen mich überrascht an. Sie hatten ja keine Ahnung, was soeben passiert war! Ich erwog kurz, es ihnen zu erzählen – im Licht all der seltsamen Dinge, die sie selbst vor dem Pessachfest unternahmen, gab es nichts, was mir hätte peinlich sein müssen! Aber ich hätte zu viel erklären müssen, was ich selbst kaum verstand, also ließ ich es bleiben und beschränkte mich darauf, mein Frühstück so schnell wie möglich aufzuessen, damit ich noch vor der Schule dem Verkauf unserer Lebensmittel beiwohnen konnte.
Noch beim Zubettgehen hatte ich gedacht, das Ganze sei ein Witz oder eventuell ein Irrtum meines Wörterbuchs, aber ein Blick in die Küche lieferte den endgültigen Beweis, dass ich richtig verstanden hatte. Ein Korb mit Brot, Kuchen und Gebäck stand schon auf der Anrichte und auf dem Weg durch den Hausflur war ich an einem Karton mit Mehl aus der Vorratskammer vorbeigekommen. All diese Dinge würde Millie, sobald ich fertig gegessen hatte, zusammen mit den Resten meines Frühstücks von den Shepards kaufen, um sie mit nach Hause zu nehmen und eine Woche zu behalten. Danach würden die Shepards ihre eigenen, noch brauchbaren Lebensmittel für das gleiche Geld zurückkaufen. Millie war schon lange genug in diesem Haushalt, um sich über nichts mehr zu wundern. Wenn ich um die Mittagszeit aus der Schule kam, würde sich im ganzen Haus kein Krümel Gesäuertes mehr finden, wie es das Gesetz vorschrieb.
Das hatten wir am Vorabend sichergestellt. Ausgerüstet mit zwei Wachskerzen, obwohl das elektrische Licht überall ausreichte, hatte Mrs Shepard ihren Mann und mich auf die Suche nach Gesäuertem geschickt, das sie, wie es aussah, extra für uns an verschiedenen Stellen des Hauses versteckt hatte. Es handelte sich um genau zehn kleine Brotstücke, die wir, nachdem wir sie endlich alle gefunden hatten, in eine Papiertüte steckten, um sie später zu verbrennen. Ich hatte die ganze Zeit kichern müssen, aber Dr. Shepard blieb vollkommen ernst. »Das ist die Prüfung , ich weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt!«, meinte er. »Wenn wir nur ein Stück übersehen, könnte uns ein Unglück treffen … oder noch schlimmer, meine Mutter findet es!«
Dies mit einem raschen, schiefen Lächeln in Richtung seiner Frau, und für einen Augenblick meinte ich, einen Schatten über ihr Gesicht huschen zu sehen. Doch nein, ich musste mich getäuscht haben, denn sie antwortete nur leichthin: »Tut mir leid, ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wohin ich das zehnte Stück gesteckt habe! Es wird dir nichts anderes übrig bleiben, als es zu finden, Matthew.«
Danach sprach Dr. Shepard ein Gebet und wir gelobten, für die nächsten sieben Tage alles Gesäuerte aus unseren Gedanken zu tilgen. Mit meinem Kichern war es danach erst einmal vorbei, denn ich machte mir nichts vor: Mit diesem Gelübde konnten unmöglich nur die paar Lebensmittel gemeint sein! Das Gesäuerte in meinem Leben waren meine schlechten Gedanken, meine geheimen Vorwürfe gegen Mamu, war die offene Frage
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