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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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verwirrt. Entweder verstand er wirklich noch viel schlechter Englisch als ich oder er fragte sich, wer Frances sein mochte. Die beiden Jungen, die uns vorhin schon geholfen hatten, schoben ihn beiseite und begannen den Projektor abzubauen.
    »Tja, ich glaube, ich gehe dann mal …«, sagte Walter verlegen auf Deutsch.
    »Warte!« Ich hielt ihn am Ärmel fest. Etwas wie Panik stieg in mir auf. Gerade erst hatten wir uns wiedergefunden, und jetzt sollte alles schon wieder vorbei sein? »Gib mir deine Adresse! Wie soll ich dich einladen, wenn ich nicht weiß, wo du wohnst?«
    Dr. Shepard gab mir einen Bleistift und einen der Zettel, die für die nächste Kinovorführung warben. Aber Walter zögerte, mir seine Adresse aufzuschreiben. »Wo wohnst du überhaupt? Es ist bestimmt zu weit für mich. Warum sagen wir nicht einfach, wir sehen uns in zwei Wochen bei der nächsten Vorstellung?«
    »In zwei Wochen? Und wenn was dazwischenkommt? Nein, ich muss deine Adresse haben! Du hast sie ja noch nicht einmal im Café Vienna hinterlegt.«
    »Im Café Vienna ?« Auf einmal musste Walter grinsen. »Sag bloß, du warst tatsächlich dort?«
    »Ich bin Stammgast«, erwiderte ich mit einem raschen Blick zu Dr. Shepard, aber da dieser kein Deutsch verstand, war ich nicht in Gefahr, mein kleines Geheimnis zu verraten.
    Walter überlegte noch einen Moment, dann lachte er und schrieb seine Adresse auf die Rückseite der Kinowerbung. Doch als Dr. Shepard anbot, ihn ein Stück mitzunehmen und zu Hause abzusetzen, lehnte er dankend ab, obwohl es draußen mittlerweile in Strömen zu regnen begonnen hatte.
    »Ich nehme an, ich brauche dich nicht zu fragen, ob du beim nächsten Mal wieder mitfährst«, meinte Dr. Shepard im Auto und zwinkerte mir zu.
    Aber ich hatte keine Lust mehr, mich zu unterhalten. Meine Freude über den Film und das Wiedersehen war auf einmal wie weggeblasen. Plötzlich spürte ich, was Walter mir in Wahrheit hatte sagen wollen: dass wir niemals Freunde werden konnten. Im Zug, auf dem Kindertransport, war er mein Beschützer gewesen, doch das war vorbei, hier in England waren wir in ganz unterschiedliche Welten einsortiert und Walter hatte mir nicht einmal seine Adresse geben wollen. Selbst wenn es mir nichts ausmachte, dass er im »Armenhaus Londons« lebte – ihn störte es, und irgendwie konnte ich das auch verstehen.
    Wir fuhren durch die Dunkelheit und plötzlich war mir, als säße Walter hinter uns auf dem Rücksitz und beobachtete, wie ich zurück zu den Shepards kehrte. Wie wir das East End mit seinem Schmutz, seinen müden Schattengestalten und dem Gestank der Fabriken hinter uns ließen, wie die Straßen hell und lebhaft und die Passanten, auf dem Weg ins Theater oder Konzert, vergnügt und gut aussehend wurden. Wie wir nach langer Fahrt den sauberen, ordentlichen Harrington Grove erreichten, wo bei diesem Wetter überhaupt niemand mehr unterwegs war, wo alle zufrieden in ihren Wohnzimmern saßen, zu Abend aßen und Radio hörten. Wie wir in das warme, gemütliche Haus traten, wo es schon nach den Pfannkuchen duftete, die es zum Abendessen gab.
    Wie Dr. Shepard seine Frau mit den Worten begrüßte: »Amanda, stell dir vor, Frances hat einen Freund vom Kindertransport wiedergetroffen. Einen netten großen Jungen namens Walter Glücklich!«
    Wie Mrs Shepards Gesicht in einem spontanen Lächeln aufleuchtete, einem so warmen, schönen Lächeln, dass es wehtat, sie anzusehen. »Walter Glücklich …?«, wiederholte sie hingerissen. »Aber das ist ja der schönste Name, den ich je gehört habe!«
    Wie mir die Tränen in die Augen schossen, ich die Treppe hinauf in mein Zimmer rannte und mich aufs Bett warf. Wie ich mir wünschte, keine Pfannkuchen zu essen, kein weiches Bett und keine liebevollen Pflegeeltern zu haben, sondern bei all der Not da draußen, der Not von Mamu und Papa, von Bekka und von Walter, der den ganzen Tag Reißverschlüsse annähte und trotzdem einen kaputten Mantel trug, anständigerweise wenigstens auch arm zu sein.
    Nach einer Weile klopfte es an meine Tür und Mrs Shepard trat ein. Ich hatte erwartet, dass sie noch zu mir kommen würde; sie gehörte einfach nicht zu denen, die ein Kind ohne Abendessen und mit einer Traurigkeit zu Bett gehen ließen, deren Grund sie noch nicht erforscht hatten. In Mrs Shepards Sekretär steckte sogar eine kleine Broschüre mit dem Titel: Wie sorge ich für ein Flüchtlingskind? Sie hatte das Heftchen schnell versteckt, als ich sie einmal beim

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