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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Lesen darin ertappte, aber ich hatte es trotzdem nur allzu deutlich gesehen.
    Vielleicht gab es darin ja ein Kapitel über unerwartete Tränenausbrüche: »Setzen Sie sich auf die Bettkante, machen Sie ein liebes, verständnisvolles Gesicht und legen Sie eine Hand auf die Bettdecke. Warten Sie zunächst ab, ob das Kind von selbst anfängt zu reden.«
    Da kannst du lange warten, dachte ich.
    Mrs Shepard stellte einen Teller mit zwei Pfannkuchen auf meine Knie und einen Becher Milch auf meinen Nachttisch, woraufhin ich den Teller wegschob und brummte: »Ich hab mir die Hände nicht gewaschen.«
    Mit großer Übertreibung machte ich die Bewegung nach, mit der man sich bei den Shepards den Wasserkrug über den Unterarm kippte, und hielt unwillkürlich den Atem an, weil es sich verächtlicher anfühlte, als ich beabsichtigt hatte. Aber Mrs Shepards Flüchtlingsheftchen enthielt wohl auch einen Abschnitt über ungerechtfertigte Attacken und sie blieb ganz gelassen. »Macht nichts«, sagte sie und stellte den Teller wieder auf meine Knie. »Du bist durch den Regen gelaufen, das zählt auch.«
    »Ich muss sowieso nicht die Hände waschen«, gab ich zurück, riss ein großes Stück Pfannkuchen ab und stopfte es herausfordernd in den Mund. »Ich bin ja gar nicht richtig jüdisch!«
    »Stimmt, das hatte ich schon fast vergessen«, antwortete Mrs Shepard. »Hast du trotzdem Lust, jemanden zu Pessach einzuladen? Das machen wir Juden nämlich so. Pessach ist ein Fest, das man nicht alleine feiern kann.«
    »Ich kann Walter einladen, aber er kommt bestimmt nicht«, sagte ich hochmütig und ohne zu erklären, was ich damit meinte.
    Doch Mrs Shepards Interesse an Walter war gar nicht so groß, wie ich dachte, denn sie fragte nur: »Und jemand anderen? Jemanden, der vielleicht sonst allein wäre?«
    Plötzlich blieb mir der Bissen im Hals stecken. Ich kannte in der Tat jemanden, der ganz allein war, aber unglücklicherweise war es jemand, von dem niemand wissen durfte. »Ich kenne hier sonst keine Juden«, erwiderte ich und dachte: Entschuldigung, Professor Schueler …
    »Es müssen keine Juden sein.«
    Mrs Shepard gab einfach nicht auf. Außer Mamu kannte ich niemanden, der so hartnäckig war. »Die anderen haben doch keine Lust auf Pessach«, sagte ich herablassend.
    Mrs Shepard ließ eine Augenbraue hochschnellen. »Na hör mal. Du willst doch nicht etwa sagen, dass du uns nicht unterhaltsam findest!«
    Schon breitete sich ohne jede Vorwarnung ein Grinsen von innen her in mir aus und ich musste hart dagegen ankämpfen, dass es meine Mundwinkel auseinanderzog. »Ich schon! Vor allem diesen ganzen Zinnober bei Tisch und die Macken in der Küche, oder die Männer in der Synagoge, wie sie alle verschieden schnell wackeln.«
    »Nur zu«, sagte Mrs Shepard. »Schone mich nicht. Obwohl ich dich darauf aufmerksam machen muss, dass du gerade das Wort Macke gebraucht hast, ein sehr verräterisches, ganz jiddisches kleines Wort.«
    »Ich will nur, dass Sie verstehen, was ich meine.«
    »Hoppla! So schwer, wie du vielleicht denkst, ist das gar nicht.«
    »Nicht, wenn man die richtigen Heftchen liest. Wie sorge ich für ein Flüchtlingskind … «
    Wir starrten uns einige Sekunden schweigend an. Plötzlich war es gar nicht mehr komisch. »Was steht da drin?«, forschte ich misstrauisch.
    »Dass du ein ganz normales Kind bist.«
    »Dann würde es kein Extra-Heft über mich geben.«
    »Was stört dich denn daran?«
    Das war ja das Verrückte: Ich wusste es nicht. Ich wollte nicht einmal wissen, was in dem Heft stand. Ich wünschte, ich hätte nicht davon angefangen.
    »Unter anderem steht in dem Heft, dass du Kontakt zu Kindern brauchst«, sagte Mrs Shepard und nahm mir den leeren Teller ab. »Wir würden uns sehr freuen, wenn dein Freund Wolter zu Besuch käme. Es ist nicht gut, dass du in der Schule nur mit den Kleinen zusammen bist.«
    »Walter kommt nicht. Es ist zu weit.« Verflixt, jetzt sagte ich auch schon Wolter . Warum konnte sie nicht einfach einsehen, dass es keinen Sinn hatte?
    »Dann lassen wir ihn abholen. Er kann in Garys Zimmer übernachten. Es findet sich immer eine Möglichkeit.«
    »Er kommt nicht, weil er arm ist«, sagte ich mürrisch.
    »Du meinst, weil er stolz ist«, verbesserte Mrs Shepard.
    Ich seufzte. Plötzlich musste ich gähnen. Diese ganzen Leute, die ich einladen wollte, aber nicht durfte, und einladen sollte, aber nicht konnte, fingen an, mir über den Kopf zu wachsen. »Von mir aus lade ich ihn

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