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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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und das »grüne Blatt« beispielsweise, von dem ich im Café Vienna gehört hatte. Domestic Bureau Enquiry Request Form lautete die offizielle Bezeichnung, die ich längst auswendig konnte, um sie an den Haustüren parat zu haben. Auf diesem grünen Blatt erklärte ein Engländer, meine Eltern beschäftigen zu wollen, man erhielt daraufhin von der Zentrale des Flüchtlingskomitees in Bloomsbury House eine Arbeitsbewilligung, und dann brauchte man nur noch zur britischen Botschaft zu gehen und das Visum abzuholen!
    Von dem Umschlag in meiner Hand ging schon beim Anfassen solche Hoffnung aus, dass mir schwindlig wurde, wie nach dem Kontakt mit etwas Heiligem. Mrs Shepard und Millie waren mir plötzlich egal, ich riss zitternd den Umschlag auf und griff mit der ganzen Hand hinein, um den rettenden Stapel Papiere herauszuziehen.
    Doch da war nur ein einziges, schweres Blatt.
    Liebe Frances, mit großer Anteilnahme hat der Premierminister von den Sorgen deiner Familie erfahren. Er lässt dir ausrichten, dass er sich sehr freut, dass du einen Platz auf dem Kindertransport erhalten hast und nun bei einer englischen Familie lebst. Dass du Heimweh nach deinen Eltern hast, kann er gut verstehen, doch leider liegt es nicht in seiner Macht, einzelnen Personen Aufenthaltsgenehmigungen …
    Das Blatt rutschte durch meine Finger. Mrs Shepard fing es auf, bevor es auf dem Boden landete. Sie warf einen fragenden Blick auf mich und begann zu lesen und ich klammerte mich, um nicht vor Enttäuschung loszuheulen, mit geradezu wissenschaftlichem Interesse an die Betrachtung der Stirnfalte, die dabei zwischen ihren Augenbrauen erschien. Die tauchte immer dort auf, wenn ihr etwas nicht gefiel. So tief hatte ich sie allerdings noch nie gesehen. Mindestens fünf Millimeter. Das sah nach vielen Fragen aus …
    Und irgendwie brauchte sie sehr lange zum Lesen, als ob sie mehrmals von vorn ansetzen musste – wodurch ich meinerseits Zeit gewann, um wieder Boden unter den Füßen zu spüren. Als sie endlich aufblickte und mich bestürzt ansah, sagte ich: »Ich wusste sowieso, dass es nichts bringt«, nahm ihr den Brief aus der Hand und warf ihn samt Umschlag in den Papierkorb neben der Tür. Dann ging ich in die Küche, als ob nichts Besonderes passiert wäre, und erhaschte um die Ecke biegend noch einen Blick auf Millie, die den Brief mit beiden Händen aus dem Abfall barg und nahezu andächtig glättete.
    Mrs Shepard kam mir nach. Nun frag schon, dachte ich und setzte mich.
    Doch meine Pflegemutter besaß eine für Erwachsene recht ungewöhnliche Eigenschaft: Wenn sie nicht wusste, was sie sagen sollte, redete sie auch nicht! In der Küche war das lauteste Schweigen, das ich je gehört hatte. Mrs Shepard knetete aus Matzenmehl und Wasser einen Teig, rollte ihn dünn aus und stach ihn mit einer Gabel ein, Millie spülte Geschirr, ich aß Obst. Es schmeckte mir nicht. Ich hatte Ausreden parat, aber sie fragte einfach nicht!
    Im Übrigen hätte ich jetzt, wo Mrs Shepard viel mehr gelesen hatte als ich, doch gern noch einmal in den Brief geschaut. Wie kam der Premierminister zum Beispiel dazu zu schreiben, ich sei homesick, wo ich selbst das Wort gar nicht benutzt hatte? Bestimmt dachte Mrs Shepard nun, ich wäre bei ihnen unglücklich.
    Heimweh! Ein Kind, das gerettet worden war, durfte doch kein Heimweh haben!
    Und was stand in dem letzten Absatz, den ich nicht mehr gelesen hatte?
    Ob sie überhaupt noch einmal mit mir reden würde?
    Nach ein paar Minuten hielt ich es nicht mehr aus. »Kann ich helfen?«, fragte ich zitternd.
    »Nein, ich stelle das nur schnell in den Ofen …« Mrs Shepard nahm ihr Backblech.
    Aber ich war schneller. Eilfertig sprang ich auf den Ofen zu, öffnete die Klappe, riss ein Streichholz an und drehte am Gashahn, wie ich es sie schon Dutzende Male hatte tun sehen. »Lass das, Frances«, waren ihre letzten Worte, bevor es zischte und knallte und eine blaue Flamme emporschoss. Erschrocken ließ ich den Gashahn los, er spuckte die Flamme aus und während ich rückwärts auf mein Hinterteil plumpste, konnte ich einen kleinen Feuerball geradewegs Kurs auf Mrs Shepard nehmen sehen.
    Ich schwöre es: Mein Herz stand still. Geistesgegenwärtig warf sie das Blech weg und drehte den Kopf zur Seite, aber es war zu spät. Die Flamme fuhr direkt in ihre Haare, und innerhalb einer Sekunde brannten sie lichterloh.
    Was dann geschah, werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Mrs Shepard griff sich an den Kopf, riss ihre

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