Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
eben, obwohl sie gar nicht weit entfernt in Sussex lebten. Wenn sie die Shepards besuchten, wohnten sie im Hotel.
    Wir standen alle zusammen im Hausflur, als die beiden eintrafen. Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft; ich sah hinüber ins blitzblanke Esszimmer und merkte, wie ich immer nervöser wurde.
    Wie konnte ich mir nur anmaßen, diese wichtige Aufgabe zu übernehmen – ich, die nicht einmal richtig jüdisch war? Es würde schiefgehen, es musste schiefgehen, und wenn ich fünf Blusen übereinanderzog, um mein Kreuz zu verbergen! Vielleicht würde ich sogar bestraft werden … für das unbefugte Stellen der Fragen, für das Verstecken des Kreuzes, wenn nicht gar für beides!
    Plötzlich wurde mir ganz heiß. Ich zog Gary am Ärmel. »Ich kann das nicht«, flüsterte ich.
    Aber er hörte mich nicht mehr, denn in diesem Augenblick fuhr draußen das Auto vor und er rief: »Sie kommen!«, worauf alle Shepards verschiedene Varianten eines Willkommenslächeln probierten, sodass man hätte annehmen können, der König käme zu Besuch oder der Premierminister, an den ich heute aber nicht mehr denken wollte.
    Die Gäste kamen näher und ich erkannte verblüfft, dass Dr. Shepards Eltern reich sein mussten. Sie betraten nicht etwa das Haus, sie zogen ein und der Begrüßungskuss, den Dr. Shepard mit seiner Mutter tauschte, war so respektvoll, dass sie sich nicht einmal berührten. Mrs Shepard senior – Julia – war eine vogelartig zarte Dame mit perfekt frisiertem Haar, von dem ich nicht erkennen konnte, ob es echt war, und einem trotz ihres Alters fast faltenlosen Gesicht, das so stark gepudert war, dass es duftete. Ihr Mann, Marcus Shepard, hatte einen eindrucksvollen weißen Vollbart. Er brummte: »Guten Abend, Sohn!«, und das war für die nächsten Stunden das Einzige, was wir von ihm hörten.
    Wir hatten uns alle fein gemacht. Gary steckte in einem blauen, Dr. Shepard in einem schwarzen Anzug, beide mit Krawatte und passender Kippa, Mrs Shepard hatte zum dunkelroten Kleid Perlenohrringe angelegt. Ihr Hut sah sehr elegant aus – als hätte sie nie vorgehabt, an diesem Abend etwas anderes zu tragen, und ich selbst wurde mir auf einmal sehr stark bewusst, dass einer meiner Kniestrümpfe heruntergerutscht war. Ob ich es wagen konnte, mich rasch zu bücken und ihn unauffällig hochzuziehen? Dr. Shepard nahm beiden Eltern Mantel und Hut ab und Julia Shepard wiederholte den vornehmen Luftkuss mit ihrem Enkel, der höflich »Großmutter!« dabei sagte.
    Ich rückte ein wenig hinter Mrs Shepard, um unbemerkt an meinem Strumpf zu ziehen. Sie streckte eine Hand aus, sagte: »Guten Abend, Mutter« – und dann ging alles so schnell, dass ich einen Moment brauchte, um zu erkennen, dass ich wahrhaftig richtig gesehen hatte.
    Mit einer raschen, fast tänzerischen Bewegung drehte sich Julia Shepard noch einmal zu ihrem Sohn um und nahm ihm die schweren Mäntel ab, die er über dem Arm gesammelt hatte; es sah aus, als wollte sie ganz darunter verschwinden und wir alle standen einen Augenblick etwas verblüfft und ratlos, was nun kommen würde. Liebenswürdig sagte sie: »Amanda …«, und mit einer Kraft, die man dieser zerbrechlichen Person gar nicht zutraute, warf sie ihre Ladung über den zur Begrüßung ausgestreckten Arm ihrer Schwiegertochter.
    Zeit zu staunen blieb nicht. Im Schwung derselben Bewegung wandte sich Julia Shepard zu mir und mich traf ein so verächtlicher, hasserfüllter Blick, dass meine Arme und Beine schlagartig zu Stein wurden.
    Denn an diesen Blick erinnerte ich mich gut. Es war der Blick meiner Lehrer und Mitschüler in Neukölln, der Blick der Männer, die in unsere Wohnung eingedrungen waren, um meinen Vater zu holen. Nie hätte ich damit gerechnet, dass mir dieser Blick in England wieder begegnen würde – im Gesicht einer jüdischen Frau! Einer Frau, die, indem sie sich zu mir beugte, mit sanfter Stimme sagte: »Und das ist euer kleiner Flüchtling? Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen, mein Kind. Wie heißt du?«
    Sie gab mir eine knochige, kühle Hand und als ich die Freundlichkeit in ihre Augen zurückkehren sah, merkte ich, dass der Blick gar nicht mir gegolten, dass ich nur einen Teil davon abbekommen hatte, weil ich am Rande der Schusslinie gestanden hatte.
    Sie meint nicht mich! Die Erleichterung war so groß, dass ich nicht imstande war, meinen Namen zu nennen; er wollte mir nicht mehr einfallen, Ziska? Francesca?, aber immerhin, auf meine Knie war Verlass.

Weitere Kostenlose Bücher