Liverpool Street
geprellt hatte.
Später, als ich im Bett lag, ging mir die Frage durch den Kopf, wie die Shepards nach all den Schreckmomenten, die ich ihnen schon bereitet hatte, überhaupt auf den Gedanken hatten kommen können, ein weiteres dieser unberechenbaren Flüchtlingskinder in ihr Haus aufzunehmen! Eine Antwort hatte ich nicht, aber ich war froh, dass ich es für Bekka nicht verdorben hatte.
Mitten in der Nacht stand ich noch einmal auf, nahm Stift und Briefblock und schrieb zum ersten Mal seit sechs Monaten die Worte: Liebe Bekka. Sie sahen so wunderbar aus, dass ich eine Gänsehaut bekam und sie einige Male laut vor mich hinmurmeln musste, bis ich endlich begriff, dass das, was ich ihr zu erzählen hatte, kein Traum war.
London, 28. Juli 1939. Liebe Bekka, hast du noch den Mickymaus-Koffer? Dann solltest du ihn besser hervorholen, denn du wirst ihn bald brauchen! In unserem Haus ist heute ein Zimmer frei geworden und wir dachten, du möchtest es vielleicht gerne haben!
Bekka, du hast richtig gehört, meine Pflegeeltern Amanda und Matthew Shepard laden dich ein, zu uns nach London zu kommen! Ich habe ihnen von dir erzählt und auch von unserem Streit, und ich kann selbst noch kaum glauben, dass jetzt endlich alles gut wird.
Ich bin so aufgeregt, Bekka, ich wünschte, ich könnte dich auf der Stelle sehen und dir die ganze Nacht erzählen, was im letzten halben Jahr passiert ist und was dich erwartet, wenn du kommst. Ich hoffe, du bist nicht mehr böse auf mich. Ich möchte dir sagen, dass es für mich genauso schlimm war wie für dich, dass du damals keinen Platz bekommen hast. Ich verstehe selbst nicht, warum sie mich genommen haben, obwohl du schon Englisch konntest und dich als Erste angemeldet hattest. Es war einfach nicht gerecht. Vielleicht haben sie Lose gezogen. Aber nun hast du einen Platz, und nicht irgendeinen, sondern bei den liebsten Menschen der Welt. Sie sind genauso, wie du es dir damals ausgemalt hast, weißt du noch? Nun hast du doch Recht behalten!
Die Shepards wollen gleich morgen alles in die Wege leiten und schätzen, dass du Ende August hier sein kannst. Sie sagen, dass du dich wie ein starkes, mutiges Mädchen anhörst und dass sie gar nicht wagen, daran zu denken, was wir beide alles anstellen werden …
Berlin, 3. August 1939. Liebe Ziska, ich habe richtig geheult, als ich deinen Brief las, weil es mir die ganze Zeit schon so leidgetan hat, was ich zu dir gesagt habe, ich aber zu feige war, dir zu schreiben. Und jetzt hast du auch noch einen Platz für mich gefunden. Wenn ich mir vorstelle, dass wir uns schon in ein paar Wochen sehen, werde ich ganz verrückt!
Aber Ziska, ich mache mir solche Sorgen um meine Eltern. Sie sitzen in der Falle, die Deutschen wollen sie nicht, aber raus lassen sie sie auch nicht. Was soll das? Ich verstehe es einfach nicht! Wie stellen sie sich denn unsere Zukunft vor? Wenn ich in England bin, werde ich sofort anfangen, nach einem Bürgen zu suchen. Ich freue mich schon auf die Familie Shepard, aber ich glaube, ich kann erst dann so richtig froh werden, wenn auch meine Eltern in Sicherheit sind. Verstehst du das? Mal bin ich ganz glücklich, wenn ich daran denke, dass ich jetzt endlich gehen kann, und dann wieder heule ich nur noch herum.
Meine Mutter sendet dir die allerliebsten Grüße und den allergrößten Dank. Wir waren sehr erschrocken, als deine Eltern und Verwandten plötzlich weg waren, aber dann natürlich froh, als aus Holland ihre Karte kam.
London, 8. August 1939. Liebe Bekka, diese Karte schreibe ich dir aus Southend-on-Sea, wo wir eine Woche Urlaub machen. Ich wünschte, du wärest schon dabei! Ich habe ein süßes kleines Zimmer im Dachgeschoss einer Pension, da wäre auch für dich noch Platz gewesen. Tagsüber liegen wir am Strand oder gehen spazieren und ich bin auch schon auf einem echten Esel geritten. Eigentlich wollten wir zwei Wochen bleiben, aber alles ist in solcher Unruhe, weil es vielleicht Krieg gibt, deshalb geht es am Donnerstag schon wieder nach Hause.
Berlin, 12. August 1939. Liebe Ziska, Thomas lässt dich herzlich grüßen, er ist TOTAL begeistert, dass ich in deine Familie komme! Ihm geht es fantastisch in seinem Internat in Cambridge. Ich habe auf der Karte nachgesehen, es ist gar nicht so weit von London – vielleicht kann ich ihn dann ab und zu sehen.
Es ist schrecklich, auf Antwort wegen des Kindertransports zu warten und sich die ganze Zeit zu fragen, wie lange ich noch bei meinen Eltern bin – ob eine
Weitere Kostenlose Bücher