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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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hingen sie auch schon aus den Abteilfenstern, um zu winken. Jemand, wohl ein Vater, hatte einen Dudelsack mitgebracht und blies zum Abschied hinein.
    »Wir sehen uns im Dezember!«, brüllte Gary, bevor der Zug anrollte, mein Bruder mitsamt den anderen Jungen von einer weißen Dampfwolke eingehüllt wurde und verschwand. Das war alles. Keine Uniform, keine Tränen der Rührung, kein einziger Moment der Erhabenheit. Auf einmal war er einfach weg.
    Schweigend fuhren wir in die Stadt zurück, ich starrte aus dem Fenster und ließ die verschwommenen Flecken der Landschaft an mir vorbeihuschen. Jetzt bin ich wieder ein Einzelkind, dachte ich und fühlte mich niedergeschlagen und angenehm tragisch zugleich.
    Doch als die Brücken über die Themse vor uns auftauchten, beugte ich mich überrascht vor. »Seht nur«, rief ich, »was ist denn das?«
    Hoch über der Stadt schwebten an Stahlseilen mehrere silbrige Objekte in der Luft, die aussahen wie riesige aufblasbare Schwimmtiere. »Ist das ein Fest? Ein Jahrmarkt? Ein Sport?«, wunderte ich mich. In England waren eine Reihe seltsamer Einfälle Tradition geworden und ich wäre kaum überrascht gewesen, wenn auch ein Gummitier-Wettfliegen dazugehört hätte!
    »Das sind Sperrballons«, erklärte Onkel Matthew. »Sie müssen heute Nachmittag angefangen haben, sie zu installieren. Wenn es einen Fliegerangriff gibt, werden die Flugzeuge gezwungen, höher zu steigen, was die Treffergenauigkeit erschwert.«
    Beinahe hätte ich gefragt: »Die Treffergenauigkeit wovon?«
    Aber zum Glück fiel mir noch rechtzeitig ein, dass meine Pflegeeltern gerade heute nicht unbedingt in der Stimmung waren, sich mit Kriegserläuterungen zu beschäftigen. Stattdessen meinte ich: »Eher lachen sich die Piloten tot und stürzen in die Themse!«, was zu meiner Freude selbst Amanda ein Schmunzeln entlockte.
    Nicht, dass man dem Thema »Krieg« in diesen Tagen entgehen konnte: Die Zeitungen waren voller Überschriften wie Will there be war? , und als wir vom Bahnhof zurückkamen, steckte wieder eine dieser kleinen Broschüren im Briefkasten. »Davon habe ich jetzt drei Stück«, sagte Amanda ungeduldig und legte das Heftchen in den Postteller neben dem Telefon.
    Im Vorbeigehen warf ich nur einen kurzen Blick auf den rätselhaften Titel: Public Information Leaflet No. 3 – Evacuation Why and How? Ich dachte noch daran, das neue Wort Evacuation später im Lexikon nachzusehen, aber bei allem, was sich danach ereignete, muss ich es vergessen haben, und als es mir wieder begegnete, war alles schon zu spät.
    Rückblickend habe ich das Gefühl, dass sich die nächsten Wochen in nur wenigen Tagen abgespielt haben müssen. Am selben Abend, nachdem wir Gary verabschiedet hatten, sah ich auf dem Weg in mein Zimmer seine Tür offen stehen und Amanda in Gedanken versunken auf seinem Bett sitzen. Ich nahm an, dass sie allein sein wollte, aber sie rief mich hinein.
    »Matthew und ich denken seit ein paar Tagen über etwas nach«, sagte sie zögernd. »Ich würde gern wissen, Frances, ob du dir vorstellen kannst, unser Zuhause mit einem anderen Kind zu teilen.«
    Einem anderen Kind? Im ersten Augenblick dachte ich, sie wollte noch ein Baby bekommen und fühlte einen heißen Stich der Enttäuschung und Eifersucht, doch Amanda redete schon weiter: »Garys Zimmer ist jetzt frei und ich weiß von Mrs Lewis, dass das Flüchtlingskomitee immer noch händeringend nach Gasteltern für den Kindertransport sucht. Es mag kein guter Zeitpunkt sein, weitere Kinder nach London zu holen, aber sie wären immerhin aus Deutschland heraus, und wer weiß … vielleicht gibt es am Ende doch keinen Krieg.«
    Ich konnte nicht sprechen. In meinen Ohren begann es zu rauschen und Amandas Umrisse flimmerten, als wollte sie sich jeden Augenblick in Luft auflösen.
    »Frances, was ist denn?« Ihre Stimme klang hohl und entfernt.
    »Ich habe eine Freundin«, brachte ich mühsam heraus.
    »Eine Freundin …? Aber ja, natürlich! Ist sie noch in Berlin? Wie heißt sie?«
    »Sie heißt Bekka … und ich habe ihren Platz.«
    Komisches Gefühl, wenn der Boden auf einen zukommt. Amanda sah es nicht kommen, es ging einfach zu schnell, ein scharfer Schmerz schoss durch meinen rechten Arm und dann war ich auch schon wieder da, allerdings auf dem Teppich sitzend und ohne irgendeine Vorstellung, wie ich dorthin gekommen war. Amanda kniete neben mir und schrie nach Onkel Matthew und ich jammerte laut, weil ich mir beim Aufprall das Handgelenk

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