Liverpool Street
Woche, zwei oder drei, oder ob vielleicht im letzten Augenblick etwas dazwischenkommt. Meine Mutter füttert mich mit Vitaminpillen, damit ich jetzt bloß nicht noch krank werde …
London, 16. August 1939. Liebe Bekka, heute schicke ich dir ein Foto von uns, damit du dich schon mal einstimmen kannst. Wir haben es am Wochenende im Garten aufgenommen. Der Junge auf dem Bild ist nicht Gary, sondern mein Kindertransport-Freund Walter, der uns zum Schabbat besucht hat. Der ältere Herr ist Professor Julius Schueler aus München. Und die schönen Blumen werden wir leider nicht mehr lange haben, denn die Regierung stattet die Haushalte mit Wellblechbunkern aus, die im Garten aufgestellt werden müssen. Unsere Straße ist noch nicht beliefert worden, aber am Ende des Harrington Grove, wo die Häuser keine Gärten haben, mauern sie gerade einen Unterstand mitten auf die Straße!
Alle reden nur noch vom Krieg. Auch Gasmasken mussten wir uns diese Woche besorgen. Sie stinken so widerlich nach Gummi, dass mir speiübel wird, also frage ich mich, was überhaupt der Sinn dieser Gasmasken sein soll, wenn man schon vom Aufsetzen krank wird.
Ehrlich gesagt finde ich es prima, dass es jetzt losgeht und wir es den Deutschen zeigen. Aber zu Hause darf ich das nicht sagen, denn sie denken sonst nur wieder an Gary. Den ganzen Tag läuft das Radio und Amanda und unser Hausmädchen Millie versuchen alles Mögliche zu hamstern, was es im letzten Krieg gar nicht oder nur auf Lebensmittelkarten gab. Für Juden wird es dann schwer, an koschere Lebensmittel zu kommen.
Aber du sollst jetzt bloß nicht den Eindruck bekommen, dass es hier gefährlich ist! Das sind bloß Sicherheitsmaßnahmen und insgesamt ist es immer noch tausendmal besser als alles, was wir aus Deutschland kennen.
Berlin, 24. August 1939. Liebe Ziska, heute habe ich den Termin für meinen Kindertransport bekommen! Es ist Samstag, der 2. September abends, und am Montag, dem 4. September werde ich am Bahnhof Liverpool Street eintreffen.
Entschuldige meine Schrift, ich zittere richtig – jetzt fange ich gerade wieder an, mich riesig zu freuen, obwohl ich zwischendurch auch immer wieder wahre Traueranfälle hatte. Meine Mutter singt vor sich hin, während sie meine Sachen inspiziert. Das habe ich lange nicht mehr gehört, aber wahrscheinlich will sie sich auch nur beruhigen.
Eure Kriegsvorbereitungen klingen spannend. Glaub bloß nicht, dass ich Angst habe! Mein Vater sagt, nur ein Krieg wird uns Juden noch retten, also kann er von mir aus bald beginnen! Liebe Grüße an alle – die Shepards sehen so süß aus auf dem Foto. Aber am meisten gefreut habe ich mich über das Bild von meiner liebsten Freundin Ziska!
»Schöne Grüße von Bekka!« Mit diesen Worten stürmte ich ins Wohnzimmer, wo Amanda am Sekretär saß und ihre eigene Post las. »Sie kommt am 4. September!«
Glücklich schlang ich von hinten die Arme um sie. Seit die Shepards eingewilligt hatten, Bekka aufzunehmen, hielt mich nichts mehr zurück, ich hätte sie den ganzen Tag umarmen können. Auch Onkel Matthew und Millie bekamen mittlerweile ihren Teil ab. »Das Kind ist so voller Übermut, dass es fast platzt«, brummte Millie gutmütig.
Amanda streichelte meine Hand, ohne von dem Brief aufzusehen, der vor ihr lag. »Wunderbar! Aber ich fürchte, vorher hast du noch einen anderen Termin«, seufzte sie. »Du bist für morgen Nachmittag in die Schule einbestellt worden.«
»Was, mitten in den Ferien?« Besorgt richtete ich mich auf. »Stimmt etwas nicht mit mir?«
»Nein, es geht nur um die Evakuierung. Eine kleine Übung. Ihr sollt eure Gasmasken und leichtes Gepäck mitbringen, wie im Ernstfall.«
Erst da fiel mir die Broschüre wieder ein, die ich im Postteller gesehen hatte, und das Wort, das ich hatte nachschauen wollen. »Was ist … Evakuierung?«
Amanda sah mich erstaunt an. »Aber ich dachte … im Brief steht, ihr hättet vor den Ferien schon eine Übung gehabt!«
»Eine Übung? Die sind mit uns zum Bahnhof und wieder zurück gegangen. Das war Evakuierung?« Jetzt war ich noch verwirrter als zuvor.
Amanda zögerte. »Nicht ganz«, sagte sie. »Evakuierung heißt so viel wie in Sicherheit bringen. Du bist schon einmal evakuiert worden, nämlich aus Deutschland. Nun gibt es den Plan, die Londoner Kinder aufs Land zu bringen, wenn die Deutschen … Ernst machen.«
»Die Kinder?« Ich konnte fühlen, wie es in meinem Gesicht arbeitete. »Ohne ihre Eltern?«
Amanda versuchte ein
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