Liz Balfour
weiter.
»Deirdre, die Traurige«, hörte ich ihn sagen. »Der Legende nach die schönste Frau Irlands.«
Gegen meinen Willen war ich neugierig und blieb stehen.
Er sprach weiter. »Noch bevor sie geboren wurde, sagte ein Druide voraus, dass sie von einer Schönheit sein würde, die noch niemand zuvor gesehen hatte. Aber die größten Männer des Landes würden wegen ihr Kriege anfangen und Blut vergießen. Man überlegte sogar, das Kind zu töten. Aber ein König war neugierig auf ihre Schönheit und wollte sie später heiraten. Sie wuchs in Abgeschiedenheit auf – und verliebte sich in einen jungen, schönen Krieger. Um es kurz zu machen: Die beiden türmten. Der König spürte sie auf, Deirdres Geliebter wurde getötet, und sie musste den König heiraten. Als sie ihm nach einem Jahr immer noch die kalte Schulter zeigte, zwang er sie, den Mörder ihres Geliebten zu heiraten. Um diesem Schicksal zu entgehen, brachte sie sich um. Deshalb Deirdre, die Traurige.«
»Und das erzählst du mir, weil … ?«
Er seufzte. »Deirdre, schön und traurig. Wie deine Mutter. Ach, vergiss es. Du verstehst einfach nicht, was dieses Land ausmacht. Was die Menschen ausmacht. Du hast keinen Bezug zu den Geschichten und Mythen, zu den Liedern und Traditionen.«
Ich verschränkte kampfeslustig die Arme. »Ihr Iren seid schon seltsam. Jahrelang feiert ihr euren wirtschaftlichen Aufschwung. Der Fortschritt kann euch nicht schnell genug gehen, ihr ladet halb Europa ein, bei euch zu arbeiten. Und jetzt, wo die Party vorbei ist, geht es wieder nur um die alten Traditionen und Geschichten von Elfen und Königen. Alles soll bleiben, wie es ist, und es sollen bloß keine Fremden ins Land kommen. Das kann man nicht ganz ernst nehmen, findest du nicht auch?«
Jetzt war es Eoin, der sich umdrehte und davonging, und ich folgte ihm.
»Warum willst du nicht, dass Deirdres Cottage verkauft wird?«, rief ich.
»Weil sie es nicht wirklich will«, sagte er wütend.
»Unsinn. Sie hat es doch aufgeschrieben.«
»Ich habe ihr immer gesagt, sie muss sich keine Sorgen machen, ich werde mich um sie kümmern. Und jetzt das!«
Aha – kamen wir nun endlich zum wahren Grund für Eoins Verhalten? Hatte er ihr angeboten, sie zu pflegen, um schließlich das ganze Haus von ihr zu erben? Seine Andeutungen, ich kenne meine Mutter nicht gut genug, ich sei eine nachlässige Tochter – sprach er ihr gegenüber genauso von mir?
War Eoin also doch ein ganz gerissener Erbschleicher? Ich würde es schon herausfinden.
»Keine Angst«, sagte ich betont gelassen, als wir das Cottage schon fast wieder erreicht hatten. »Sie hat auch dafür gesorgt, dass du genügend Geld bekommst.«
»Bitte was?«
Oh ja, er war in der Tat ein guter Schauspieler. »Tu
doch nicht so. Du hast sie wahrscheinlich lange genug bearbeitet, damit was für dich abfällt. Und bestimmt stehst du auch in ihrem Testament. Mir ist egal, was sie mit ihrem Geld macht, aber ich muss schon sagen, ich finde es dreist, wie du dich in ihr Leben geschlichen hast. Auf ihre Pferde sollst du auch aufpassen. Natürlich hat sie keinen blassen Schimmer, was für ein Tierquäler du bist.«
Eoin war kreidebleich geworden, das konnte ich sogar in der Dunkelheit erkennen. Er bewegte seine Lippen, aber es kam sekundenlang kein Ton. Dann endlich flüsterte er: »Du hältst mich für einen Erbschleicher und einen Tierquäler? Ist das dein Ernst?«
»Liegt es denn nicht auf der Hand? Außerdem weiß ich, was ich gesehen habe. Wie du bei meinem letzten Besuch dieses arme Pferd mit deinem Wagen gejagt hast und wie es dann vor Panik und Erschöpfung zusammengebrochen ist.«
Ich wartete auf eine Rechtfertigung, auf Ausreden, wirre Erklärungen. Aber nichts kam. Er strich sich nur mit der Hand übers Gesicht, dann schüttelte er heftig den Kopf, ohne mich anzusehen. Schließlich drehte er sich um und ging eilig weiter auf das Cottage zu. Bei seinem Defender, den er hinter meinem Mietwagen geparkt hatte, blieb er kurz stehen, drehte sich noch einmal um und sagte: »Du weißt gar nichts.« Dann stieg er in seinen Wagen, knallte die Tür zu und fuhr davon.
Mein Herz,
ich kann nicht länger ohne dich sein. Ich werde vor deiner Tür warten, bis du mich reinlässt. Alles andere bringt mich um.
M.
12.
Die Auseinandersetzung mit Eoin hatte mich wieder einmal vollkommen aufgewühlt. Ich war froh, ihm endlich meine Meinung gesagt zu haben, und da ich ihm den Schlüssel abgenommen hatte, konnte ich auch sicher
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