Liz Balfour
»Dein verstorbener Ehemann würde nicht wollen, dass du …« Oder: »Dein Vater hat sich immer gewünscht, dass du …« Ob es stimmte oder nicht, man konnte sich auf diese Weise vieles schönreden, sich über manches hinwegtrösten. Aber Deirdre war nicht tot. Wenn sie aufwachte, sollte alles in ihrem Sinne geschehen sein. Und damit war ich wieder zurück bei der Frage: Was würde sie tun? Ich wusste es nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie meine Mutter dachte und empfand. Eoin war vielleicht
kein ehrlicher Mensch, aber mit einem hatte er recht gehabt: Ich kannte meine Mutter nicht.
Müde massierte ich mir den Nacken, streckte mich und beschloss, einen Spaziergang zu machen, um meine Nerven zu beruhigen. Es war wieder eine warme, sternklare Nacht wie gestern. Der Mond würde erst sehr viel später aufgehen, aber meine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Ich ging in dieselbe Richtung, die ich mit Eoin eingeschlagen hatte, und ich hoffte, wieder eine Sternschnuppe zu sehen. Ich sehnte mich auch nach dieser alles umgebenden Dunkelheit und der tiefen Stille, die an diesem Punkt geherrscht hatte. Irgendwie glaubte ich, dort zu einer Erkenntnis zu gelangen, endlich zu verstehen, was ich zu tun hatte. Es war ein absurder Gedanke, aber ich war zu erschöpft und zugleich zu aufgedreht, um ihn infrage zu stellen.
Als ich die Stelle erreicht hatte, setzte ich mich auf die Steinmauer neben der Straße und sah aufs Meer. Weiter die Küste hinab waren kleine Lichter zu erkennen, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelten. Sie wirkten wie Sterne, die auf die Erde gefallen waren. Die Wellen schlugen sanft gegen die Felsen der Steilküste, das schönste Geräusch, das ich mir vorstellen konnte. Ich hob den Blick in den Himmel und wartete auf eine Sternschnuppe, aber es wollte keine fallen.
»Ich hab Zeit«, sagte ich zu den Sternen und legte mich auf den Rücken, um besser nach oben sehen zu können.
Wäre es nicht schade, wenn es diesen Flecken Erde bald in dieser Form nicht mehr gäbe? Natürlich wäre es das. Aber die Welt drehte sich weiter, ständig wurde irgendwo
neu gebaut. Es würde immer Orte wie diesen geben, irgendwo …
Ich musste eingeschlafen sein. Als ich das Klappern von Pferdehufen hörte, schreckte ich hoch und wusste im ersten Moment nicht, wo ich war. Dann sah ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Pùca. Er hatte die Gestalt eines skelettartigen weißen Pferdes angenommen und raste unaufhaltsam in meine Richtung. Ich träume, dachte ich noch, und sprang von der niedrigen Mauer, auf der ich lag. Ich wollte mich hinter der Mauer vor dem Pferd verstecken. Aber ich strauchelte, kaum nachdem ich gelandet war, und dann dauerte es viel zu lange, bis ich wieder Boden unter meinen Füßen spürte. Für eine Sekunde fühlte ich mich im freien Fall und wunderte mich, warum ich nicht spätestens jetzt aufwachte.
Ich träumte nämlich gar nicht. Ich schlug hart auf dem Boden auf und knickte dabei mit dem linken Fuß um. Erst jetzt sah ich, dass ich nur knapp einer Katastrophe entgangen war: Ich musste auf dem schmalen Grasstreifen hinter der Mauer ausgerutscht sein und war dann zwei Meter gefallen. Jetzt befand ich mich auf einem Felsvorsprung unterhalb der Mauer. Und einen halben Meter vor mir ging es steil bergab. Ich hatte unbeschreibliches Glück gehabt, nicht noch sehr viel tiefer gefallen zu sein.
Mühsam kletterte ich den steilen Hang hoch und spähte über die Mauer. Das weiße Pferd war stehen geblieben. Ich konnte sogar auf die Entfernung sehen, wie es vor Erschöpfung zitterte.
Das Motorengeräusch kam aus dem Nichts. Von einer Sekunde zur nächsten war es einfach da, ohne dass ich
sagen konnte, aus welcher Richtung es kam. Ich starrte auf das Pferd, und das Pferd starrte mich an. Es zitterte immer noch, schnaubte nervös. Dann stand Eoins Defender zwischen uns, und die Jagd begann. Das Pferd rannte mit letzter Kraft los, der Wagen folgte ihm querfeldein. Sie kamen beide auf mich zu. Diesmal aber würde ich nicht zulassen, dass dem Tier etwas passierte. Ich hievte mich über die Mauer und rannte direkt auf den Defender zu – Eoin würde keinen Menschen überfahren. Vielleicht ein Pferd, aber keinen Menschen. Ich warf mich in den Lichtkegel seiner Scheinwerfer und blieb mit ausgebreiteten Armen stehen. Mein Herz konnte ich im Hals schlagen spüren, und ich schmeckte meine Angst auf der Zunge. Das Licht wurde immer heller, bis ich die Augen schließen musste. Hatte ich mich getäuscht? War
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