Liz Balfour
Zimmer geworden war. Sie übernachtete auf dem schmalen Gästebett, während mein Vater im ehelichen Schlafzimmer jede Nacht seinen Rausch ausschlief.
Ich weiß nicht genau, wann ich angefangen hatte, Relikte aus meiner Kindheit zu vermissen. Mit siebzehn? Mit neunzehn? Jedenfalls lebte mein Vater zu der Zeit noch. Eines Morgens war ich in diesem Zimmer aufgewacht und hatte gedacht: Wäre es nicht schön, wenn hier noch etwas von mir herumstehen würde? Die wunderschönen, wenn auch vom vielen Lesen schon zerfledderten Ausgaben von Frances Hodgson Burnetts »Der geheime Garten« oder Jonathan Swifts »Gullivers Reisen«? Oder die Illustrationen von John Butler Yeats – dem Vater des berühmten irischen Dichters William Butler Yeats –, die ich aufs Sorgfältigste aus einem Kinderbuch von Patricia Lynch abgepaust und nachgezeichnet hatte? Wo waren überhaupt die alten Ausgaben von Lynch, die einmal meiner Großmutter gehört hatten? Diese antiquarischen Erstausgaben waren mittlerweile vermutlich ein
Vermögen wert. Patricia Lynch, die Ende des 19. Jahrhunderts in Cork geboren worden war, hatte eins der Bücher sogar für meine Großmutter signiert … Aber all das gab es nicht mehr. Ich traute mich nicht, nach diesen Dingen zu fragen, weil ich Angst vor der Antwort hatte. Es schien nicht das kleinste Anzeichen dafür zu geben, dass ich die Tochter meiner Eltern war und hier einst mit ihnen gelebt hatte. Sie hatten meine Kindheit in Emerald Cottage ausgelöscht. Aber in mir lebte sie fort, ganz egal, wie sehr ich glaubte, sie vergessen zu haben. Das unbewusste Tasten nach dem Heizstrahler hatte mich mir selbst verraten.
2.
Meine Eltern Deirdre und Colin Sullivan hatten in meiner Erinnerung nie an einem anderen Ort gelebt als in diesem Cottage. Ich erfuhr erst viel später, dass wir in Cork gelebt hatten, bis ich ein Jahr alt war. Natürlich hatte ich als Kleinkind keine Erinnerung daran. Für mich stand fest, dass jeder Mensch für immer an dem Ort leben würde, an dem er aufwuchs. Unter meinen Spielkameraden in Myrtleville gab es niemanden, der jemals umgezogen war oder gar Eltern hatte, die von woanders herstammten. Erst im Kindergarten, der sich im benachbarten Crosshaven befand, hörte ich mit der Zeit immer mehr Geschichten von Menschen, die zwar aus meiner Gegend stammten, ihr Leben aber an anderen Orten verbracht hatten. Ich erzählte zu Hause von den anderen Kindern, deren Tanten und Onkel in Dublin lebten oder in New York. Ein Mädchen behauptete sogar, Verwandte in Australien zu haben. Da erst sagten mir meine Eltern, dass sie aus Cork stammten – das mir damals wie die größte Stadt auf der ganzen Welt erschienen war –, und nicht schon ihr Leben lang in Emerald Cottage wohnten. Ich weiß gar nicht, warum ich nie danach gefragt hatte. Mich traf fast der Schlag, als ich dann noch erfuhr, selbst eine Tante in London zu haben. Ich hatte sie noch nie gesehen. Ich
hatte nicht einmal gewusst, dass mein Vater eine Schwester hatte! Mir war nur bekannt, dass die Geschwister meiner Mutter nicht mehr am Leben waren. Ein Bruder und eine Schwester waren gestorben, als sie noch zur Schule gegangen war. Meine Großeltern hatte ich nie kennengelernt, weil sie alle früh verstorben waren. Aber mein Vater hatte nie über Geschwister gesprochen. Er und seine Schwester standen sich nicht besonders nah, erklärte mir meine Mutter. Erst viele Jahre später begriff ich, dass er sich seiner Schwester gegenüber geschämt hatte, und weil sie ihn an sein Scheitern, seine Trunksucht, erinnerte, hielt er sich möglichst von ihr fern.
Sie besuchte uns zum ersten Mal, als ich sechs Jahre alt war, und ich war so aufgeregt, als käme die Feenkönigin persönlich auf Besuch. In der Nacht vor ihrer Ankunft konnte ich nicht schlafen, weil die freudige Aufregung in Angst umgeschlagen war: Was, wenn meine Tante Siobhan wirklich eine Fee war, eine böse Fee? Meine Eltern mussten mir mehrfach versichern, dass es sich bei Siobhan um ein echtes menschliches Wesen aus dem Familienkreis handelte, aus Fleisch und Blut, mit Haut, Haaren und Fingernägeln und garantiert nicht von einem Fluch besetzt.
Sie hatten mich angelogen. Siobhan Lewis mochte zwar aus Fleisch und Blut sein, aber Haut, Haare und Fingernägel hatten nichts mit dem zu tun, was ich mit meinen sechs Jahren darüber zu wissen glaubte. Siobhans schwarzes Haar war glatt und glänzend wie die Oberfläche eines tiefen Sees an einem windstillen Tag bei Sonnenuntergang. Ihre Haut war
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