Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Stadt produziert also auch unsere Vorstellungen von den Möglichkeiten eines Lebens in einer Natur, die als Antidoton zum Gift der Urbanisierung gedacht war. Es sind die Urlaubsträume der Städter, die sich in den Anpreisungen idyllischer Landschaften in den Urlaubskatalogen widerspiegeln. Die Entdeckung der Natur als Raum der Erholung, der Ruhe und Besinnung, aber auch des Abenteuers und des Erlebnisses gehört zur Geschichte der Urbanisierung.
Die gewachsene europäische Stadt ist allerdings noch durch eine weitere Grenze charakterisiert: der zwischen Zentrum und Peripherie. Diese gleicht einer Binnengrenze, die mitunter völlig unterschiedliche Formen urbanen Lebens voneinander scheidet. Historisch gewachsene Städte haben definierte Zentren, oft entstanden aus den mittelalterlichen Stadtkernen, mit zentralen Plätzen, Märkten und den Repräsentationsbauten der verschiedenen Epochen: politische Verwaltungsgebäude, religiöse Bauten, Theater, Schulen und Banken. Zu einem entfalteten urbanen Lebensgefühl gehört dieser Wechsel zwischen dem Zentrum, um dieses Zentrum arrangierten inneren Bezirke und den äußeren Bezirken einer Stadt. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat an einigen geteilten Städten gezeigt, was es heißt, solche Zentren außer Kraft zu setzen. Auch wenn man zwischen 1945 und 1989 den Kurfürstendamm in Westberlin zu einem Quasizentrum der geteilten Stadt aufwerten konnte, war klar: Das Zentrum Berlins ist anderswo. Seit dem Fall der Mauer ist Berlin-Mitte – auch mit großem finanziellem Aufwand – wieder zum Zentrum dieser deutschen Metropole geworden, der Kurfürstendamm wirkt mittlerweile allerdings seltsam verödet.
Der Fall Berlin und der Fall der Berliner Mauer verweisen allerdings auch noch auf eine andere Dimension der Stadt, diese nun verstanden als Ausdruck politischer Herrschafts- und Deutungsansprüche. Die Städte im Osten Europas, von denen viele aus westeuropäischer Perspektive ohnehin immer an der Peripherie des Kontinents lagen, erlebten in den letzten Jahrzehnten einen rasanten Wandel, der nicht nur das Angesicht dieser Städte, sondern auch die Frage, was Stadt bedeuten kann, radikal verändert. Der Sozialismus stalinistischer Prägung hatte die Städte als Zentren der bürokratischen Herrschaft definiert, mit den entsprechenden Gestaltungen des Raumes und den damit verbundenen Herrschaftsarchitekturen. Der Zweite Weltkrieg und die Zerstörungspolitik der deutschen Truppen hinterließen im Osten riesige Stadtruinen, deren Wiederaufbau mitunter anderen Prinzipien folgte als in den bombardierten Städten des Westens: Historische Zentren und deren symbolisch hochkonnotierte Bauten – Bürgerhäuser, Kirchen, Stadtschlösser, alte Stadtviertel, Theater, Boulevards – wurden, sofern nicht ohnehin zerstört, oft dem Verfall preisgegeben, allenthalben durch eine protzige Architektur der sozialistischen Macht konterkariert. An der Peripherie und in bewusstem Gegensatz zu den leeren Zentren entstanden sogenannte moderne urbane Räume, Industrieanlagen, Wohn- und Verwaltungskonglomerate, Plattenbausiedlungen, die die alte Stadt höhnisch konterkarierten und doch durch deren Namen nobilitiert waren. An die Stelle der Differenz von Zentrum und Peripherie traten Doppelstädte eigenen Typs, die weder das eine noch das andere sein konnten. Der rasante Aufschwung, den die osteuropäischen Städte seit 1989 erleben, kann nicht nur als eine, vielleicht erstmalige Inbesitznahme der Städte durch ihre Bürger beschrieben werden, sondern auch als Wiedergewinnung der alten Zentren. Deren Revitalisierung lässt den Touristen erstaunen und mitunter die verblüffende Erfahrung machen, dass, gerade weil seit Jahrzehnten nichts geschah, nun Dinge sichtbar und möglich werden, die überall sonst schon verschwunden sind.
Die Differenz von Zentrum und Peripherie berührt dabei ganz wesentlich jenen Aspekt, den wir bis heute mit dem Begriff der Urbanität, sofern wir diesen positiv besetzen, verbinden: Kultur. Natürlich, die Kultur ist keine Erfindung der Stadt, und der Anteil der Kirche, der Klöster, der Fürstenhöfe an der Entwicklung der europäischen Kultur ist höchst bedeutsam. Aber Kultur in einem modernen Sinne, als Ausdruck ästhetischer Autonomiebestrebungen, als Repräsentation bürgerlichen Selbstbewussteins, als Manifestation kritischer Stellungnahmen, als Kommunikations- und Lebensstil lebt von den Verdichtungsmöglichkeiten, die sich in gewisser Weise nur in Stadtzentren
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