Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
selben Ort vereinen konnten. Die unterschiedlichen sozialen Schichten finden sich ebenso in einer Stadt wie die Angehörigen verschiedener Religionen, Ethnien, Sprachgemeinschaften, Berufsgruppen oder Lebensstile. Städte sind so immer auch soziale höchst differenzierte und komplexe Arrangements von Menschen höchst unterschiedlicher Prägung. Das provozierte immer die Frage, wie diese Unterschiede im alltäglichen Leben einigermaßen konfliktfrei arrangiert werden können. Es gehört zur Logik einer Stadt, dass man dieses Problem durch topografische Ausdifferenzierung und damit durch mitunter gar nicht so imaginäre Grenzziehungen zu lösen versucht: Die Angehörigen einer wie immer definierten Gruppe konzentrieren sich in bestimmten Teilen einer Stadt, manchmal nur in einer Straße oder einigen Straßenzügen, manchmal dominieren sie ganze Stadtviertel. Vieles an den Bezeichnungen von Straßen und Vierteln erinnert noch an diese frühen Aufteilungen. Straßen, die nach bestimmten Handwerken oder Industrien benannt wurden, gehören ebenso dazu wie Stadtteile, die an religiöse oder ethnische Minderheiten erinnern. Aber auch die sozialen Hierarchien, die sich in Villenvierteln auf der einen Seite und Armenvierteln auf der anderen ausdrücken, gehören dazu, ebenso wie funktionale Trennungen nach Geschäftsvierteln, Bankenvierteln, Industriegebieten, Parks oder Naherholungsgebieten.
Hinter diesem Konzept der topografischen Ausdifferenzierung steht der Gedanke, dass sich Differenzen am besten leben lassen, wenn man sie in einem Nebeneinander belässt, nicht in ein Miteinander oder gar Durcheinander drängt. Ungebrochen gilt diese Konzeption natürlich nicht. Was in manchen funktionalen Bereichen durchaus plausibel erscheint – wir sind froh, dass Industrieanlagen nicht quer über Wohnbezirke verteilt werden –, wird in anderen durchaus problematisch: Die Aufteilung in reine Bürobezirke, die nachts ausgestorben sind, und Schlafstädte, in denen sich am Tag kaum etwas rührt, kann ebenso unbehaglich empfunden werden wie die Trennung zwischen Wohnbereichen und davon beträchtlich entfernten Shopping-Citys, die eines der ursprünglichsten Merkmale von Stadtzentren, den Markt, an die Peripherie oder jenseits davon verlagern. Der Einkaufslust, die man in dezentralisierten Shoppingmalls empfinden kann, korrespondieren – neben den Verkehrsproblemen – deshalb auch die Innenstädte, die man wegen mangelnder Einkaufsmöglichkeiten als verödet und ausgestorben empfinden muss.
Noch problematischer wird die Möglichkeit topografischer Differenzierung im Bereich des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Ethnizität, Religion oder Herkunft, auch wenn gerade in Zeiten großen Migrationsdrucks solche Entwicklungen bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich scheinen und mancherorts auch dann noch stilisiert werden, wenn dieser Druck längst einer gelungenen Integration gewichen ist – man denke nur an Chinatown oder Little Italy in New York. Die Balance zu halten zwischen einem Nebeneinander, das nicht in die Formierung von sozial abgeschnittenen Parallelgesellschaften führt, die tatsächlich ein eigenes Universum in einer Stadt bilden, und einem Miteinander, das nicht pausenlos Reibungsflächen und Anlässe für Konflikte bildet, gehört zweifellos zu den größten Herausforderungen der Stadtpolitik in der Gegenwart und in der Zukunft. Angesichts zu erwartender politischer, ökonomischer und ökologischer Krisen wird der Migrationsdruck auf Europa weiter zunehmen, und die Städte – darüber soll man sich keine Illusionen machen – werden wie bisher die ersten Adressaten für diese Bewegungen und damit auch die Brennpunkte damit einhergehender potenzieller Konflikte sein.
Neben den topografischen Differenzierungen unter dem Gesichtspunkt der Herkunftskulturen der Migranten gehört die soziale Differenzierung zu den großen Herausforderungen jeder Stadt. In den Städten kommt alles zusammen und muss sich doch voneinander scheiden, auch Arm und Reich. Traditionelle Wohnformen in eng umgrenzten innerstädtischen Arealen – die bürgerlichen Wohnbezirke und die Arbeiterviertel – werden hier ergänzt und zum Teil abgelöst von neuen Zuschreibungen als Resultat dynamisierter sozialer Prozesse: Ganze Stadtteile können durch Verarmung abgewertet werden, andere, die als angesagte Wohngegend von einer kaufkräftigen, meist jüngeren Klientel entdeckt werden, können rasante Aufstiege erleben. Die Immobilienpreise und
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