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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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Investitionsvorhaben sind meist der relevante Indikator für solche Entwicklungen. Solange es soziale Differenzen geben wird – und sie werden in naher Zukunft zunehmen –, wird die Stadt auch der Ort sein, wo diese in aller Schärfe sichtbar sein werden. Solange es eine kommunale Politik gibt, die die Macht und die ökonomischen Ressourcen hat, in solche Prozesse korrigierend, mitunter vielleicht sogar gestaltend einzugreifen – durch Stadtteilsanierungen, Durchmischungsprojekte, Schaffung von Verkehrsanbindungen, Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und zur Hebung des Bildungsniveaus, Maßnahmen zur Stärkung des Bewussteins, bei aller Differenz Bewohner einer Polis zu sein –, können solche Differenzen auch einen durchaus dynamisierenden Charakter haben. Man zog immer schon in die Stadt, um dort sein Glück zu versuchen, an einen Ort, der gerade aufgrund seiner Heterogenität mehr Chancen bietet als jede andere Form des Zusammenlebens. Dort aber, wo die divergierenden sozialen Kräfte nicht mehr kontrolliert werden können, die legalen und illegalen Märkte ihre eigene Dynamik ungebremst entfalten, kein Ausgleich mehr versucht werden kann, zerfallen die Städte unerbittlich nicht nur in Gebiete mit unterschiedlichem sozialen und kulturellen Gepräge, sondern in geschlossene, voneinander abgeschottete Welten. Den No-go-Areas einer kriminalisierten und pauperisierten Unterschicht, in die sich nicht einmal mehr die Polizei hineinwagt, stehen dann durch Kontrollen, privates Sicherheitspersonal und Mauern geschützte Wohnareale der Superreichen gegenüber, Lebenswelten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und miteinander nichts mehr zu tun haben, auch wenn sie sich nominell in einer Stadt befinden.
    Die Stadt im Sinne eines zusammenhängenden Siedlungsgebietes mit hohem Verkehrsaufkommen, regional differenzierten Arbeits-, Konsum- und Freizeitmöglichkeiten und starker sozialer und kultureller Differenzierung hat zweifellos Zukunft – vielleicht sogar zu viel Zukunft. Denn diese Form der Verstädterung bewirkt und verstärkt auch das, was der deutsche Soziologe und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich schon in den sechziger Jahren die »Unwirtlichkeit unserer Städte« genannt hatte. Eine Stadt, sofern man sie als gegliederte, politische Einheit sieht, muss auch Möglichkeiten haben, ihre Bürger an dieser Einheit sozial, politisch und kulturell teilhaben zu lassen. Eine Stadt ist deshalb immer auch mehr als ein Raum zum Angebot und zum Konsum von Dienstleistungen. Traditionelle kommunale Aufgaben wie Wasser- und Energieversorgung, Müllabfuhr und Straßenreinigung, aber auch soziale und kulturelle Einrichtungen wie Kindergärten und Schwimmbäder, Gesundheitszentren und Sozialbauten, Büchereien und Sportplätze können deshalb nie nur unter dem Aspekt der ökonomischen Effizienz gesehen werden. Die Bindung und Einbindung der Bürger in eine Stadt, das Bewusstsein, Teil einer Stadt als eines politischen und gesellschaftlichen Gefüges zu sein und sich deshalb auch in Maßen für diese Stadt verantwortlich zu fühlen, hängt von ebenjenen städtischen Institutionen, ihren Angeboten, Leistungen und identitätsstiftenden Effekten ab. Die unter dem Druck der neoliberalen Ideologie in den letzten Jahren vorgenommenen Privatisierungen und Auslagerungen kommunaler Aufgaben und Dienste mögen rein ökonomisch berechtigt sein – man muss sich aber auch im Klaren darüber sein, dass auf diesem Wege die Stadt als politisches Gebilde, als zentrale Einheit unseres Siedlungsverhaltens nachhaltig beschädigt wird. Natürlich werden wir in Zeiten der Krise alle sparen müssen, auch Kommunen müssen mit dem Geld der Steuerzahler sorgfältig umgehen, und niemand ist glücklich, wenn Städte hoffnungslos überschuldet sind; aber man muss den Städten auch jene Einnahmen zukommen lassen, die es ihnen erlauben, jene Rahmenbedingungen bereitzustellen, die das Leben in einer Stadt zu einer auch in Zukunft attraktiven und erstrebenswerten Option machen. Viel ist dafür mitunter gar nicht nötig – aber unter gewisse Mindeststandards sollte man keinesfalls zurückfallen. In einem berühmten Aphorismus aus dem Jahre 1909 – aus einer Zeit also, in der Wien rasant expandierte und etwa so viele Einwohner hatte wie heute – hatte Karl Kraus diese Standards prägnant formuliert: »Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich

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