Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
und der Laster gewesen, Knotenpunkte der Hoffnung für manchen Ankommenden, Stätten der Verzweiflung für jene, die, ohne ihr Glück gefunden zu haben, die Stadt wieder verlassen müssen. Nebenbei: In modernen oder renovierten Bahnhöfen sucht man in einem Gewirr von Geschäften und Restaurants oft vergeblich nach den Gleisanlagen, und ohne das Logo einer Eisenbahngesellschaft ist solch ein Gebäudekomplex von einem beliebigen Einkaufszentrum nicht mehr zu unterscheiden. Aber immerhin: Wer in einem solchen Einkaufszentrum die Aufschrift »Hauptbahnhof« entdeckt, weiß, er ist in einer Stadt angekommen. Das Bewusstsein des Ankommens und Verlassens, des Kommens und Gehens ist der zeitgenössischen Bahnhofsarchitektur allerdings über weite Strecken abhandengekommen.
Die modernen Verkehrsmittel – Automobil und Flugzeug – lassen die Frage nach dem Übergang zwischen Stadt und Nichtstadt noch einmal in einem anderen Licht erscheinen. Für das Automobil indiziert in der Regel eine allmähliche Verknappung der Fahrbahnen diesen Übergang: von der Autobahn auf die Stadtautobahn, dann auf mehrspurige, zweispurige, einspurige Straßen. Anstelle der alten Stadttore signalisieren nun Park-and-ride-Plätze, dass man den Stadtrand erreicht hat und nun besser mit einem städtischen Verkehrsmittel weiterfahren sollte. In eine Stadt kommen heißt umsteigen. Das gilt auch für das Flugzeug. Mit wenigen Ausnahmen – der geschlossene Flughafen Berlin-Tempelhof zählte dazu – landet man nicht in, sondern außerhalb einer Stadt. Im Gegensatz zu Bahnhöfen, die einstens das Bild einer Stadt im Wortsinn prägen konnten, haben Flughäfen kein urbanes Ambiente. Sie sehen zunehmend auch überall gleich aus, sind exterritoriale Orte, an denen der Transfer von Menschen und Gütern organisiert wird. Die Stadt beginnt erst mit der Suche nach einem städtischen Verkehrsmittel, das den Reisenden vom Flughafen ins Zentrum bringt. Existiert eine U-Bahn – was praktisch ist und schnellen Transport garantiert –, ist man in der Stadt, ohne je gesehen zu haben, wo diese hätte beginnen können. Das Bild der Städte ist heute in einem vielleicht höheren Maße als angenommen von diesem übergangslosen Wechsel von einem gesichtslosen Flughafen in ein vielleicht sogar historisches Stadtzentrum geprägt.
Was aber, wenn man endlich in der Stadt angekommen ist? Dann stellt sich, heute mehr denn je, die Frage, wie kommt man weiter? Städte sind heute ab einer gewissen Größenordnung untrennbar verbunden mit der Frage nach der Organisation des Verkehrs. Wirklich befriedigend ist diese Frage kaum wo beantwortet worden. Die Vision der autogerechten Stadt, wie sie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entwickelt und zum Teil umgesetzt wurde, war wahrscheinlich einer der folgenschwersten Fehler moderner Stadtplanung, an dem wir noch für einige Zeit laborieren werden. Umgekehrt ist die Utopie der autolosen Stadt so lange illusionär, solange es Automobile geben wird, unabhängig von der Technologie, die diese zum Fahren bringt. Natürlich spiegelt eine Stadt in verdichteter und konzentrierter Form auch die technischen Möglichkeiten von Mobilität wider, aber diese dürfen nicht den Sinn und die Funktion einer Stadt konterkarieren. Zu dieser gehört nur zu einem Teil die Mobilität ihrer Bewohner, die in erster Linie ja Bewohner und nicht Befahrer einer Stadt sind. Den tatsächlichen Mischungsverhältnissen urbaner Tätigkeiten und Bewegungen – Wohnen, Schlafen, Arbeiten, Gehen, Fahren mit Autos, aber auch mit Rädern, Spielen, Spazieren, Flanieren, Einkaufen, Essen – sollte auch eine gemischte Infrastruktur entsprechen, die nicht eine dieser Tätigkeiten – das Autofahren – zuungunsten aller anderen privilegiert.
Das Ankommen in einer Stadt korrespondiert mit dem Verlassen einer Stadt. Die Stadt und das Leben in ihr produzieren immer auch Sehnsuchtsbilder der anderen Art: das Leben im Grünen. Das Zweithaus mit all seinen verkehrspolitischen und ökologischen Folgen symbolisiert vielleicht am besten diese Logik des Verlassens: am Wochenende nichts wie raus aus der Stadt! Die romantischen Vorstellungen, die wir uns seit dem 18. Jahrhundert von ländlichen Regionen machen – von den Alpen, von Wäldern und Wiesen, von Seen und Fischerdörfern an Meeresufern –, sind von Stadtbewohnern produziert worden, die dem Lärm und Gestank, der Enge und der Hektik, der Anonymität und der Kälte moderner Großstädte entfliehen wollten. Die
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