Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
ergeben. Als prägendes Element einer Stadt ist Kultur tatsächlich ein relativ spätes Phänomen, vieles, was das kulturelle Leben und die Architektur von Stadtzentren bis heute prägt – Museen, Theater, Konzertsäle, Opernhäuser, Galerien, Bibliotheken, Schulen, Universitäten –, stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist auch Dokument der Ablösung des aristokratischen Lebensstils durch die städtische Welt des Bürgers. Und bis heute ist man geneigt zu sagen, dass eine Stadt ohne diese Einrichtungen, also ohne Theater, ohne Bibliothek, ohne Konzerthaus, ohne Bildungsstätten, eigentlich keine Stadt ist. Ob multifunktionale Neubauten, die viele dieser Aspekte in sich vereinen sollen, ein guter oder ausreichender Ersatz für das Fehlen dieser Institutionen beziehungsweise ihrer architektonischen Realisationen sein können, bleibe einmal dahingestellt. Zum unverwechselbaren Bild einer gewachsenen Stadt gehört aber eine Infrastruktur, die eben nicht darin besteht, dass die immergleichen Geschäfte und Buden der immergleichen Konzerne die immergleichen Fußgängerzonen und Shoppingmalls bevölkern, sondern dass auch in diesen Bereichen – Restaurants, Geschäfte, Boutiquen, Schaufenster, Kaffeehäuser – traditionelle und unverwechselbare Einrichtungen mit den unvermeidlichen Konsequenzen der Globalisierung eine vielleicht spannungsreiche, aber doch Synthese eingehen können. Fasst man Kultur nicht nur als bürgerliche Repräsentationskunst auf, sondern als jenes Feld, in dem sich überlieferte und moderne Lebensformen, Tradition und Innovation, Kreativität und Reproduktion, Erinnerung und Antizipation, ästhetisches Vergnügen und die Lust am Neuen gegenseitig bedingen und befruchten, und betrachtet man dies als einen zentralen Aspekt von Urbanität, dann wird auch klar, dass Kommunalpolitik eben nicht nur Wirtschafts- und Sozialpolitik, nicht nur Verkehrs- und Gesundheitspolitik, sondern in einem umfassenden Sinn immer auch Bildungs- und Kulturpolitik sein muss.
Die Stadt hat aber, wie keine andere Lebensform, im wörtlichen und übertragenen Sinn eine Kehrseite. Mitte des 19. Jahrhunderts, als die ersten Metropolen wie Paris und London, wenig später dann Berlin und Wien in Europa entstanden, stellte sich der Philosoph Karl Rosenkranz in seiner heute leider vergessenen Ästhetik des Häßlichen die interessante Frage, was wohl wäre, könnte man eine Stadt wie Paris einmal umkehren, sodass das Unterste zuoberst käme. Nicht bloß die »Jauche der Kloaken«, sondern auch die lichtscheuen Tiere, die Mäuse, Ratten, Kröten und Würmer, die alle von Abfall und Verwesung leben, würden zum Vorschein gebracht werden, und all dies würde ein höchst ekelhaftes Bild ergeben. 94
Jede Stadt hat ihre Geheimnisse, ihre Unterwelt, ihre Keller und Katakomben, ihre dunklen Kanäle und geheimen Gänge, und niemand weiß, was dort wirklich geschieht. Seit Carol Reeds Filmklassiker Der dritte Mann , zu dem Graham Greene das Drehbuch verfasste und in dem Orson Welles die Hauptrolle spielte, gehört das Absteigen in urbane Unterwelten zum ständig wiederkehrenden Motiv urbaner Geschichten. Urbild dieses Sujets war der Roman Die Geheimnisse von Paris des französischen Schriftsteller Eugène Sue aus dem Jahre 1843, in dem zum ersten Mal diese Kehrseite der Stadt – Massenarmut, Kriminalität, Alkoholismus, Prostitution, Krankheit, Hunger, Elend, Brutalität, Grausamkeit – anschaulich geschildert wurde. Es war seit diesem Jahrhundert auch ein Ziel kommunaler Sozialpolitik gewesen, diese negativen Seiten von Urbanität abzufedern; angesichts der sozialen Spannungen, die in naher Zukunft zu erwarten sind, könnte diese Kehrseite der Stadt wieder stärker ins allgemeine Bewusstsein und in die allgemeine Wahrnehmung rücken, als uns lieb sein kann. Die Stadt kennt also auch eine Binnengrenze, die die humanen und zivilisatorischen Aspekte der Urbanisierung von deren Kehrseite, der Verelendung, trennt.
Städte sind, von alters her, immer auch die Orte gewesen, an denen es einerseits möglich wurde, dass viele Menschen zusammenleben, was andererseits aber auch eine Binnendifferenzierung in unterschiedlicher Weise und in mitunter prekärer Intensität erlaubte, ja vielleicht notwendig machte. Städte sind die Orte, an denen Verschiedenstes eine Einheit bilden kann. Städte faszinierten seit jeher dadurch, dass sie vieles, was ansonsten nur als Vereinzeltes und Isoliertes oder in einer homogenen Form erschien, zur gleichen Zeit am
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