Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
bin ich selbst.« 95 Mit Blick auf das, was den Städten angesichts der herrschenden Krise womöglich droht, bleibt zu hoffen, dass wir uns wenigstens die Gemütlichkeit bewahren. Zu befürchten ist allerdings, dass diese Gemütlichkeit eben nicht ganz unabhängig ist davon, ob es einer Stadt und ihren Bürgern gelingt, sich auf die Idee der Urbanität als Modell eines zivilisierten Zusammenlebens auch in unruhigen Zeiten zu verpflichten.
Lärm
An der Grenze des Erträglichen
Unruhige Zeiten? Zumindest in den Städten könnte es dann wieder laut werden, wenn Demonstranten auf berittene Polizisten treffen, Sirenen heulen, Sprechchöre die Plätze beschallen und amtliche Lautsprecherdurchsagen alles zu übertönen trachten. Vor allem in den Städten und Ballungsräumen ist es jedoch manchmal auch in ruhigen Zeiten laut, mitunter sehr laut. Und nicht selten geht der Lärm bis an die Grenze des Erträglichen. Damit ist allerdings eine Form der Grenze markiert, die sich von allem unterscheidet, von dem bisher die Rede war. Denn jenseits des Erträglichen beginnt das, was nicht mehr auszuhalten ist: Es macht einen rasend. Es ist die Grenze zwischen mir und der Welt, die sich nicht zuletzt über den Schall, der mein Ohr erreicht, definiert. Aber Lärm ist nicht gleich Lärm, und kaum eine Grenze ist so von Kontexten, Befindlichkeiten und subjektiven Einstellungen gekennzeichnet wie die, die unsere akustische Umwelt in die Zonen des Angenehmen, Unangenehmen und Unerträglichen teilt. Damit aber kann der Umgang mit dem Lärm auch als Paradigma einer Grenzerfahrung aufgefasst werden, die für die technoide Moderne charakteristisch ist und die durch die Frage nach den Grenzwerten zulässiger Belastungen gekennzeichnet ist.
Während dem Zeitgeist entsprechend überall Grenzen verschwinden oder abgebaut werden sollen, tobt um jene oft imaginären Grenzen menschlicher Belastbarkeit ein heftiger Kampf: hinter und vor den Kulissen der damit konfrontierten Interessengemeinschaften und Lobbys. Wie viel Radioaktivität in der Umwelt, Chemie in den Lebensmitteln, Feinstaub in der Luft, Metall in den Meeren, Stress am Arbeitsplatz, Lärm in der Umgebung dem Menschen zuträglich ist, ist eine Frage, die durch die Festlegung von Grenzwerten bestimmt werden soll. Diese erfordern nicht nur immer genauere Messungen, sondern sind auch voll von normativen Implikaten. Wer entscheidet nach welchen Kriterien über das zuträgliche Maß an womöglich nur potenzieller oder im Ausnahmefall eintretender Gefährdung? Die heftigen Debatten darüber und das oft recht beliebig anmutende Hinauf- und Hinabsetzen von Grenzwerten zeugen nicht nur von der perennierenden Brisanz solcher Grenzbestimmungen, sondern demonstrieren eindringlich, dass auch hier die Grenze über begriffliche Entscheidungen die Lebenswelt strukturiert. Der Grenzwert entscheidet über das, was uns gerade noch zuträglich ist. Werden diese Grenzen überschritten, droht unserer physischen und psychischen Integrität höchste Gefahr. Auch hier gilt: Die Grenze soll schützen. Solange die Grenzwerte nicht überschritten sind – so die offizielle Verlautbarung nach jedem Austritt von Radioaktivität –, droht keine größere Gefahr für Leib und Leben der Betroffenen. Keine Grenze fordert von den ihr Überantworteten so viel Vertrauen, und keine ist mit so viel Misstrauen behaftet wie diese. Wer glaubt eigentlich noch an die Grenzwerte, die von den Konglomeraten aus Industrie, Bürokratie und Wissenschaft verkündet werden? Am Lärm, dieser einfachen und doch so eindringlichen Belästigung, lässt sich auch einiges über diese Form der Grenze erfahren.
Lärm muss es schon immer gegeben haben, und noch nie konnte man sich auf eine einfache Definition von Lärm einigen. Einfach zu messende Parameter wie Lautstärke oder Schalldruck geben darüber nur begrenzt Auskunft. Ob Geräusche welcher Art auch immer als Lärm empfunden werden, hängt in hohem Maße von der Situation und der subjektiven Befindlichkeit des Betroffenen ab. Und vor allem: Lärm ist immer auch eine Frage der Macht. Diese drückt sich auch in einer akustischen Hegemonie aus, denn nicht jeder darf lärmen. Nur die absolute Macht bedarf keiner akustischen Signale mehr, um sich bemerkbar zu machen. Eher im Gegenteil – sie ist anwesend in ihrer akustischen Abwesenheit:
Gott,
welch Dunkel hier!
O grauenvolle Stille!
Öd ist es um mich her,
nichts,
nichts lebet außer mir,
O schwere Prüfung!
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