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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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    Die Klage des gefangenen Freiheitskämpfers Florestan aus Ludwig van Beethovens einziger Oper, Fidelio , markiert diesen Sachverhalt. Grauenvoll ist die Stille, das Schweigen der Macht. Wo Leben ist, geht es nicht so lautlos zu. Der Mensch hat Ohren, um zu hören. Leben heißt, sich in einer akustischen Umwelt zu bewegen und zu orientieren, die voll von Geräuschen, Lauten, Signalen, sirenenhaften Verlockungen und drohendem Gebrüll ist. Diese Welt der Geräusche gehört zu den konstituierenden Merkmalen der Lebensverhältnisse überhaupt. Und auch die Macht, bevor sie absolut geworden ist, muss sich Gehör verschaffen. Es gilt aber auch der Umkehrsatz: Was sich Gehör verschafft, erlangt Macht. Und damit sind wir wieder beim Lärm.
    Lärm kann als eine besondere Qualität im Universum der Geräusche definiert werden: Es sind jene akustischen Reize, die als unangenehm, störend, enervierend, schmerzhaft empfunden werden. Lärm ist das, was sich Gehör verschafft, obwohl es nicht gehört werden will. Lärm hat einerseits eine objektive Komponente – Lautstärken und Tonhöhen an der Schmerzgrenze, chaotische Lautfolgen –, andererseits aber auch eine stark subjektive Seite: das, was mich jetzt an meiner akustischen Umwelt stört. Die Schwelle, ab der etwas als Lärm, damit als störend, damit als aufdringlich, damit als penetrant und dominant erfahren wird, ist also in hohem Maße variabel. Ist man Philosoph, liegt die Lärmschwelle mitunter besonders niedrig. Dazu einige Überlegungen einer erst in Ansätzen vorliegenden Philosophie des Lärms. 97
    Die Denkenden fühlten sich offenbar durch den Lärm immer schon belästigt. So heißt es etwa bei Blaise Pascal: »Der Geist des größten Mannes in der Welt ist nicht so unabhängig, dass er nicht gestört werden könnte durch den geringsten Lärm in seiner Nähe. Um seine Gedanken zu hindern, dazu ist nicht das Knallen einer Kanone nöthig, sondern nur das Knallen einer Wetterfahne oder einer Winde.« 98 Pascal thematisiert hier den zentralen Zusammenhang von Lärm und Denken. Der Lärm stört nicht nur, er wirkt nicht nur subkutan, er behindert nicht nur verschiedene Tätigkeiten und den Schlaf, er verunmöglicht vor allem eines: Konzentration, Denken, Reflexion. Lärm ist in erster Linie geisttötend, und dies auch dann, wenn der Lärm einen guten Zweck verfolgt, wie das Beispiel des Philosophen Immanuel Kant zeigt. Kant war absolut lärmempfindlich; er stritt mit Nachbarn und wechselte die Wohnung, wenn er nicht die zum Denken notwendige vollkommene Stille vorfand. Das ließ ihn auch gegen so manche Lärmquelle ankämpfen. So merkte Kant in einer Fußnote zu seiner Kritik der Urteilskraft zur Frage, inwiefern Musik auch als störend empfunden werden kann, einmal an: »Diejenigen, welche zu den häuslichen Andachtsübungen auch das Singen geistlicher Lieder empfohlen haben, bedachten nicht, daß sie dem Publikum durch eine solche lärmende (eben dadurch gemeiniglich pharisäische) Andacht eine große Beschwerde auflegen, indem sie die Nachbarschaft entweder mit zu singen oder ihr Gedankengeschäft niederzulegen nötigen.« 99 Keine Frage, dass es Kant in unserer lärmdurchfluteten Welt nicht gerade leicht gehabt hätte; überlegenswert aber, ob für eine anspruchsvolle Form des konzentrierten Denkens nicht in der Tat eine Stille die Voraussetzung ist, die wir kaum mehr vorfinden – was immer dies für die Qualität unseres Denkens auch bedeuten mag.
    In einer kleinen Abhandlung Über Lärm und Geräusch definierte Arthur Schopenhauer den Lärm als die »impertinenteste aller Unterbrechungen«, und dies deshalb, da der Lärm »sogar unsere eigenen Gedanken unterbricht, ja, zerbricht«. Nur dort, so fährt der Philosoph hämisch fort, wo »nichts zu unterbrechen ist, da wird er freilich nicht sonderlich empfunden werden«. 100 Wer nicht denkt, der kann in seinem Denken auch nicht durch Lärm schmerzhaft unterbrochen werden. Je sensibler jemand ist und je konzentrierter er mit einer geistigen Arbeit beschäftigt ist, desto störender muss jeder diese Konzentration unterbrechende Lärm empfunden werden. Damit aber ist ein durchaus nicht nur amüsantes Verhältnis zwischen Lärm und Denken exponiert.
    Natürlich, ein »mäßiges und stetiges Geräusch« kann jemanden quälen, ohne dass man sich dessen bewusst wird und ohne dass man die Lärmquelle als solche identifiziert. Solch eine konstante Geräuschkulisse, die zu den Alltagserfahrungen des modernen Menschen

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