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Lobgesang auf Leibowitz

Lobgesang auf Leibowitz

Titel: Lobgesang auf Leibowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter M. jr. Miller
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unserem Tor vorbei, es sei denn, der Wächter hat geschlafen. Der Novize, der auf Wache war, bestreitet, geschlafen zu haben, obwohl er zugibt, an jenem Tag schläfrig gewesen zu sein. Was meinst du?«
    »Der Ehrwürdige Vater möge mir verzeihen, ich habe selbst schon ein paarmal auf Wache gestanden.«
    »Und?«
    »Nun, an einem hellen Tag, wenn sich außer den Geiern nichts bewegt, fängt man nach ein paar Stunden an, hinauf zu den Geiern zu blicken.«
    »Ach wirklich? Wenn man eigentlich auf den Pfad aufpassen sollte?«
    »Und wenn man zu lange in den Himmel starrt, wird man im Kopf irgendwie ganz leer – man schläft nicht wirklich, aber man ist gewissermaßen in Gedanken versunken.«
    »Das macht ihr also, wenn ihr auf Wache seid, was?« brummte der Abt.
    »Nicht unbedingt. Das heißt nein, Ehrwürdiger Vater, ich glaube, ich wüßte es gar nicht, wenn ich mich so verhalten hätte. Bruder Je – ein Bruder, den ich einmal ablöste, war so. Er merkte nicht einmal, daß es Zeit für die Wachablösung war. Er saß da einfach im Turm und starrte mit offenem Mund in den Himmel. Ganz benommen.«
    »Ja, und kaum bist du auf diese Weise betäubt, schon kommt eine Gruppe heidnischer Krieger aus dem Utahland herunter, tötet ein paar Gärtner, zerstört das Bewässerungssystem, verdirbt unsere Ernte und wirft Steine in unsere Brunnen, bevor wir überhaupt noch mit einer Verteidigung anfangen können. Wieso schaust du mich so an? Ach, ich vergaß, du bist in Utah aufgewachsen, bevor du ausgerissen bist, nicht wahr? Schon gut; aber du könntest vielleicht sogar recht haben mit der Wache, das heißt, warum sie den alten Mann übersehen hat. Bist du sicher, daß er bloß ein gewöhnlicher alter Mann war – und nichts weiter? Kein Engel? Kein Seliger?«
    Der Blick des Novizen wanderte gedankenverloren zur Decke, kehrte dann schnell zum Gesicht seines Vorstehers zurück. »Werfen Engel oder Heilige auch Schatten?«
    »Ja, das heißt nein. Ich glaube… wie soll ich das wissen! Er hat einen Schatten geworfen, was?«
    »Na ja, der Schatten war so kurz, daß man ihn kaum sehen konnte.«
    »Was?«
    »Weil es fast Mittag war.«
    »Du Einfaltspinsel! Ich will doch nicht von dir wissen, was er war. Wenn du ihn überhaupt gesehen hast, kann ich mir sehr gut denken, was er war.« Abt Arkos schlug mit der Hand auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Ich will wissen, ob du – du ganz allein – dir über jeden Zweifel erhaben sicher bist, daß er nur ein gewöhnlicher alter Mann war.«
    Dieser Verlauf der Befragung brachte Bruder Francis in Verlegenheit. In seinem eignen Verstand gab es keine saubere, gerade Grenze, die natürliche und übernatürliche Ordnung voneinander schied, sondern vielmehr einen dämmrigen Übergangsbereich. Es gab Sachen, die eindeutig natürlich waren, und es gab die Dinge, die eindeutig übernatürlich waren; aber zwischen diesen Extremen war das Gebiet der Verwirrung (seiner eigenen) – das Außernatürliche –, wo Sachen, die lediglich aus Erde, Luft, Feuer oder Wasser bestanden, dazu neigten, sich auf bestürzende Weise ähnlich wie übernatürliche ›Dinge‹ zu verhalten. Für Bruder Francis umfaßte dieses Gebiet alles das, was er zwar sehen, aber nicht begreifen konnte. Was der Abt von ihm verlangte, konnte er nicht sein: »über jeden Zweifel erhaben sicher«, daß er beinahe alles richtig verstand. Dadurch, daß die Frage überhaupt aufgeworfen wurde, rückte der Abt nun den Pilger des Novizen unabsichtlich in den Dämmerbereich, unter denselben Gesichtspunkt, unter dem der alte Mann zuerst erschienen war, als schwarzer Strich ohne Beine, der sich mitten in einem See von Hitzespiegelungen windend den Pfad hinunterbewegte. Unter demselben Gesichtspunkt, unter dem er einen Augenblick lang erschienen war, als die Welt des Novizen sich zusammenzog, bis sie nichts mehr enthielt als eine Hand, die ihm ein Stück Essen anbot. Wenn irgendein übermenschliches Wesen beschließt, sich als Mensch zu verstellen, wie vermochte er diese Verkleidung zu durchdringen oder sie auch nur als solche zu erkennen? Wenn solch ein Wesen keinen Verdacht erregen will, würde es dann nicht daran denken, einen Schatten zu werfen, Fußstapfen zurückzulassen, Brot und Käse zu essen? Würde es nicht Gewürzkräuter kauen, auf Eidechsen spucken und daran denken, das Verhalten eines Sterblichen nachzuahmen, der vergessen hat, seine Sandalen anzuziehen, bevor er glühendheißen Sand betritt? Francis war nicht in

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