Lobgesang auf Leibowitz
der Lage, Verstand oder Scharfsinn höllischer wie himmlischer Wesen zu beurteilen oder den Umfang ihrer schauspielerischen Fähigkeiten abzuschätzen, obgleich er von solchen Wesen annahm, daß jene Fähigkeiten eben höllisches beziehungsweise himmlisches Ausmaß hätten. Der Abt hatte, indem er die Frage überhaupt aufwarf, die Art der Antwort von Bruder Francis geprägt: sie würde darin bestehen, sich mit der Frage selbst zu beschäftigen, obwohl ihm früher so etwas nie in den Sinn gekommen wäre.
»Nun, mein Junge?«
»Herr Abt, Ihr vermutet doch nicht, daß er vielleicht… «
»Ich bitte dich, keine Vermutungen! Sag es rundheraus, ich bitte dich! War er ein gewöhnlicher Mensch aus Fleisch und Blut, oder war er’s nicht?«
Die Frage erschreckte ihn. Die Würde, die die Frage gewann, weil sie von den Lippen einer so erhabenen Person wie der seines hoheitsvollen Abtes kam, machte die Frage freilich noch schrecklicher, obwohl er deutlich erkannte, daß sein Vorsteher sie nur gestellt hatte, weil er eine peinlich genaue Antwort haben wollte. Er wollte sie unbedingt. Die Frage mußte wichtig sein, da er so unbedingt darauf bestand. Wenn die Frage einem Abt bedeutungsvoll genug erschien, so war sie viel zu bedeutungsvoll für Bruder Francis, der es sich nicht leisten konnte, etwas Falsches zu sagen.
»Ich – ich glaube, daß er aus Fleisch und Blut war, Ehrwürdiger Vater, aber er war kein ganz ›gewöhnlicher‹ Mensch. Auf gewisse Weise war er ziemlich ungewöhnlich.«
»Auf welche Weise?«
»Gleichsam… wie genau er spucken konnte. Und er konnte lesen, glaube ich.«
Der Abt schloß die Augen und rieb sich offenbar ärgerlich die Schläfen. Wie einfach wäre es gewesen, dem Jungen klar zu sagen, daß sein Pilger nichts als eine Art alter Landstreicher gewesen sei, und ihm dann zu befehlen, so und nicht anders darüber zu denken. Er hatte jedoch zugelassen, daß der Junge erkannte, Zweifel war möglich, und damit war der Befehl schon wirkungslos geworden, bevor er ihn noch ausgesprochen hatte. Soweit Gedanken überhaupt lenkbar waren, konnte ihnen nur befohlen werden, dem zu folgen, was vom Verstand sowieso bekräftigt wurde. Befiehl den Gedanken etwas anderes, und sie gehorchen nicht. Wie jeder kluge Herrscher gab Abt Arkos keine zwecklosen Befehle, das heißt da, wo Ungehorsam möglich oder Durchführung unmöglich war. Es war besser, die Augen zu verschließen, als wirkungslose Befehle zu geben. Er hatte eine Frage gestellt, die selbst er verstandesmäßig nicht beantworten konnte, da er den alten Mann nie gesehen hatte. Und dadurch hatte er das Recht verloren, die Antwort zu erzwingen.
»Geh jetzt!« sagte er schließlich, die Augen geschlossen.
5
Etwas stutzig geworden durch die Erregung in der Abtei, kehrte Bruder Francis noch am selben Tag in die Wüste zurück, um seine Fastenvigilie in ziemlich elender Einsamkeit zu vollenden. Er hatte erwartet, daß einige Erregung wegen der Relikte aufkommen würde, war aber überrascht, daß alle dem alten Wanderer so maßlose Neugierde entgegenbrachten. Francis hatte den alten Mann nur wegen der Rolle erwähnt, die er gespielt hatte, war es nun zufällig oder auf Veranlassung der Vorsehung geschehen, daß der Mönch auf die Gruft und die Überbleibsel gestoßen war? Was Francis anging, war der Pilger nur unbedeutendes Beiwerk in dem großen mandalaförmigen Flechtwerk, dessen Mitte die Reliquie eines Heiligen barg. Aber seine Mitbrüder hatten mehr Interesse am Pilger als an der Reliquie gezeigt, und selbst der Abt hatte ihn rufen lassen, nicht um ihn über die Schachtel, sondern um ihn über den alten Mann auszufragen. Sie hatten ihm hundert Fragen über den alten Pilger gestellt, auf die er nur antworten konnte »Das habe ich nicht bemerkt« – oder »Darauf habe ich nicht richtig aufgepaßt« – oder »Wenn er es sagte, so erinnere ich es nicht«. Einige der Fragen waren ein bißchen unheimlich. Und so fragte er sich: »Hätte ich es bemerken müssen? War ich zu dumm, darauf zu achten, was er tat? War ich nicht aufmerksam genug auf das, was er sagte? Ist mir irgend etwas Wichtiges entgangen, weil ich benommen war?«
In der Dunkelheit brütete er darüber nach, während die Wölfe sein neues Lager umschlichen und die Nacht mit ihrem Geheul erfüllten. Er ertappte sich beim Brüten darüber auch zu Zeiten des Tages, die als schicklich für Gebete und die geistigen Exerzitien der Berufungsvigilie festgesetzt waren. Er beichtete alles Prior
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