Lockend klingt das Lied der Wueste
Moquansaid konnte auf eine jahrtausendealte Geschichte zurückblicken. Die Ausgrabungsstätte lag an einer uralten Handelsroute. Waren die Karawanen einst auch an diesem Haus hier vorbeigezogen? Hatten die Bewohner ihnen nachgesehen und dabei von fremden Ländern geträumt, die sie niemals sehen würden? Im Geist meinte Lisa beinahe, das Trampeln der Kamele und die Rufe ihrer Treiber zu hören.
Ein dumpfes Donnergrollen in der Ferne holte sie in die Wirklichkeit zurück. War ein Gewitter im Anzug? Unbehaglich ließ sie ihren Blick über den blauen Himmel schweifen. Keine einzige Wolke stand dort oben, nur eine leichte Brise streifte ihre Wangen. Lisa erschauerte. Vor Gewittern hatte sie eine Heidenangst.
Sie sah auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass es an der Zeit war, zurückzufahren. In ein paar Stunden würde es Abendessen geben, und sie hatte Durst. Zwar befanden sich die empfohlenen drei Flaschen Wasser im Jeep, doch die letzte Flasche wollte sie nur im Notfall öffnen.
Die steile Treppe wieder hinunterzusteigen war schwieriger als heraufzukommen. Unsicher setzte Lisa einen Fuß vor den anderen. Plötzlich fuhr ein heftiger Windstoß in das alte Gemäuer, und bei dem gespenstig heulenden Geräusch verlor sie vor Schreck das Gleichgewicht. Verzweifelt versuchte sie Halt zu fassen, aber es war vergeblich. Mit einem Aufschrei stürzte sie die Treppe hinunter, wobei sie die harten Kanten der Stufen schmerzhaft zu spüren bekam.
Benommen blieb sie am unteren Ende der Treppe liegen. Sie hatte das Gefühl, keinen heilen Knochen mehr im Leib zu haben, doch wirklich Besorgnis erregend war der pochende Schmerz in ihrem rechten Fuß.
Vorsichtig setzte sie sich auf und untersuchte als Erstes ihre Kamera. Zum Glück schien sie bis auf einen Kratzer nicht weiter beschädigt zu sein. Schlimmer war es um ihren Knöchel bestellt. Als sie aufzustehen versuchte, ließ ein höllisches Stechen sie augenblicklich wieder zurücksinken. Das Pochen in ihrem Knöchel verwandelte sich in unerträgliche Qualen. Vorsichtig massierte sie den Fuß, doch er schwoll trotzdem rasch an.
Großartig! Wie sollte sie mit diesem lädierten Knöchel zum Camp zurückkommen? Der Jeep war alt und hatte seine Mucken, und sie brauchte beide Füße zum Fahren. Hoffentlich war es nur eine vorübergehende Verstauchung, die wieder abklang, wenn sie den Fuß eine Weile ruhen ließ.
Das Donnergrollen kam näher. Noch immer war am Himmel keine Wolke zu sehen, aber der Wind hatte aufgefrischt. Mit zunehmender Stärke blies er jetzt von Südwesten. Nervös kaute Lisa auf ihrer Unterlippe. Die Vorstellung, hier allein von einem Gewitter überrascht zu werden, erschien ihr als der blanke Horror. Vielleicht ist es gar kein Donner, sondern ein Flugzeug, versuchte sie sich zu beruhigen, obwohl es sich irgendwie anders anhörte.
Als sie nach Westen blickte, durchfuhr sie ein heftiger Schrecken. Eine bedrohlich aussehende dunkelbraune Wolkendecke erstreckte sich dort. Das sieht tatsächlich nicht nach einem Gewitter aus, dachte sie mit klopfendem Herzen.
Das Donnergrollen kam nun in kürzeren Abständen. Falls ihr Knöchel sich in den nächsten paar Sekunden nicht auf wundersame Weise erholte, würde das Unwetter oder was auch immer es war, mit voller Gewalt über sie hereinbrechen. Erinnerungen an die schrecklichste Gewitternacht ihrer Kindheit gingen ihr durch den Kopf.
Ihre Angst wuchs. Würde sie es noch rechtzeitig ins Haus schaffen? Ganz ins Innere durfte sie sich nicht wagen, da dem Dach nicht zu trauen war. Doch wenn sie sich ein Stück von den offenen Fensterhöhlen fern hielt, würde sie wenigstens trocken bleiben und nicht bis auf die Haut durchnässt werden wie in jener Nacht, als ihre Mutter starb. Stundenlang hatte Lisa damals im Regen gesessen, bis sie von ihren Rettern endlich gefunden worden war.
Mühsam rappelte sie sich hoch. Ihre Hände brannten wie Feuer von dem Versuch, ihren Sturz abzubremsen, aber weit mehr schmerzte ihr verletzter Fuß. Es war unmöglich, damit aufzutreten.
Das Unwetter näherte sich bedrohlich rasch. Sie musste sich beeilen und das Innere des Hauses eben notfalls kriechend erreichen.
Plötzlich bemerkte sie eine Silhouette am Horizont. Es war ein Reiter auf einem schwarzen Pferd, der in gestrecktem Galopp auf das alte Haus zuhielt. Er trug das traditionelle Gewand der Beduinen und die typische Kopfbedeckung, eine Keffiya.
In einer Staubwolke brachte er sein Pferd zum Stehen. Erst als er aus dem Sattel sprang,
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