Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?
Nachthemden und einem goldenen Band um den Kopf, auf dem vorne ein Stern drauf ist. Zwischen beiden steht der Haupterzengel. Er hat eine goldene Krone auf dem Kopf und das ist Marlene Simoneit, die älteste Schwester von Gisi.
Ich bin auch ein Engel und stehe auf der Seite bei den Hirten. Wir halten Kerzen in den Händen und sind furchtbar aufgeregt.
Die ganze Kirche ist voll, weil Weihnachten und geheizt ist. Alle Leute gucken und wir kleinen Engel und Hirten, die nichts zu reden brauchen, aber heilig aussehen müssen, gucken zurück, wer alles da ist.
Wir haben mit Herrn Krohn lange für das Krippenspiel geübt. Ich bin ganz stolz auf Inge, weil sie meine Schwester und ein Erzengel ist. Sie betont alles so schön, dass man wirklich glaubt, dass sie heilig ist. Auch Angelika ist gut. Ihre struwweligen Haare passen gut zu ihrer Rolle. Sie wirkt wie ein Rauschgoldengel aus Goldpapier. Lustig ist nur, dass Inges Stern immer rutscht. Deshalb muss sie ihn dauernd wieder hochschieben.
Zuhause machen Inge und Angelika ja auch immer Theater oder sie sind Filmstars. Ich bin das Publikum und muss auf der Fensterbank sitzen. Da sind sie aber keine Engel, sondern Liebespaare und knien voreinander abwechselnd nieder. Dabei legen sie die Hand aufs Herz und schwören ewige Liebe. Am liebsten schaue ich zu, wenn sie „alte Ägypter“ sind. Inge setzt dann meine Teufelsmütze auf, die ich hasse. Ich habe sie schon so oft verlieren wollen, aber immer, wenn sie mir vom Kopf fällt, hebt sie jemand auf. So eine gute Qualität, so warm und doch so hässlich! Nur wenn Inge sie mit hochgeklappten Spitzen auf dem Kopf hat, gefällt sie mir. Dann nimmt sie noch eine Gardinenstange als Zepter und ist ein Pharao. Sie breiten die Arme aus, weil sie glauben, das sei dramatisch und rufen laut: „O Isis und Osiris!“
Dann klatscht das Publikum, also ich. Ich klatsche auch immer aus ehrlichem Herzen, weil ich’s so furchtbar komisch finde. Aber lachen darf ich nicht, weil das die Künstler kränken würde.
6. Bild
Krippenspiel Weihnachten 1949 (1)
7. Bild
Krippenspiel Weihnachten 1949 (2)
Jedes Jahr ein neuer Kopf
1949
Es war ja sehr schön, das Krippenspiel und wir waren ja auch sehr wichtig, aber richtig Weihnachten zuhause ist noch viel schöner. Man freut sich ja schon so lange drauf. Genauer gesagt, seit der Zeit, wenn die Tage kürzer werden. Wenn ich dann abends im Bett liege, sehe ich immer schon, wie sich das Christkind mehr und mehr ankündigt. Jeden Tag erscheint am Fenster etwas mehr von seinem goldenen Faltengewand. Mir ist dann immer ganz komisch. Ich freue mich, aber ich möchte auch weinen, jedenfalls ist es schön, dass der Schein da ist.
Neulich ist etwas ganz Furchtbares passiert, der Schein war auf einmal nicht mehr da. Und das kam so: Ich wurde ganz schlimm ausgeschimpft, weil ich im Hausgang Ball gespielt habe.
Frau Mühlbauer, die neben Mohrs oben wohnt, hatte sich über mich beschwert. Sie konnte wegen des Krachs nicht einschlafen. Dabei war es heller Mittag und mir war’s draußen einfach zu kalt zum Spielen. Außerdem verstehe ich nicht, dass sich über sie niemals jemand beschwert. Wenn sie nämlich niest, dann wackelt das ganze Haus, obwohl es noch vor dem Ersten Weltkrieg gebaut wurde, also solide ist. Alle Leute erschrecken jedes Mal und fahren zusammen, wenn ihr erschütterndes „Hatschiiii“ ertönt. Ich glaube, die Leute in unserem Haus fürchten sich deshalb mehr vor der Erkältungszeit als der Rest von Kattenbach. Mein Ballspiel ist lange nicht so laut wie Frau Mühlbauers Niesen.
Jedenfalls gab’s fürchterliches Geschimpfe. Ich war so traurig, dass ich sterben wollte. Denn dann würden sich alle Erwachsenen vorwerfen müssen, wie unrecht sie mir getan hätten. Ich musste lange darüber nachdenken und weinte auch ein bisschen über mich, weil die grausame Welt mich so jung in den Tod schickte.
Da kam mir der Gedanke mit dem Schrank.
Im Schlafzimmer steht ein Schrank, der hat vier Türen. In den kroch ich hinein, machte mich ganz klein und versteckte mich hinter den Handtüchern.
Dann habe ich gewartet. Es war natürlich ziemlich ungemütlich. Es war schon dunkel und langsam wurde ich gesucht. Meine Eltern machten auch die Schranktür, hinter der ich saß, flüchtig auf und leuchteten mit einer Taschenlampe hinein. Aber ich hatte mich gut getarnt, niemand sah mich. Ich genoss es, zu hören, was für ein liebes Kind ich auf einmal war, bis Mama mich
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