Lockruf der Toten / Magischer Thriller
überstrapaziert – beides führt häufig in den Wahnsinn. Ich war gesund und hatte einen Kreis hilfsbereiter Freunde und Bekannter.
Aber wie jedes Mal, wenn ich mich wieder davon überzeugt hatte, dass ich überreagierte, dass ich mich mit meiner Angst vor dem Wahnsinn selbst wahnsinnig machte, sah ich meine starke und sture Großmutter vor mir: Sie war ans Bett geschnallt, als sie starb, wurde gefüttert wie ein Kleinkind und faselte wirres Zeug von Geistern, die nicht einmal ich sehen konnte. Und seit letztem Herbst, als ich Jeremy in Toronto bei etwas geholfen hatte, hatte ich noch ein weiteres Bild von einer Nekromantin vor Augen, das ich den Erinnerungen hinzufügen konnte: eine Nekromantin, die in ihrem Wahnsinn kaum noch menschlich aussah.
Sosehr ich mich an Jeremys Worte zu klammern versuchte, ich spürte, dass meine Zuversicht ins Wanken geriet, und ich stellte mir vor, wie meine geistige Gesundheit es ebenfalls tat. Und während ein Teil von mir sagte: »Du wirst nicht verrückt, also geh, nimm Kontakt mit diesem Geist auf und beweis es«, sagte ein anderer, stillerer, dabei aber überzeugenderer Teil: »Ist es nicht sicherer, dir selbst zu erzählen, dass du Kontakt aufnehmen
könntest,
wenn du es wirklich versuchtest?«
Nein. Ich würde mich nicht geschlagen geben.
Ich holte den Beutel mit meinem nekromantischen Rüstzeug aus seinem Versteck und schlich die Treppe hinunter.
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4 Kinderkrankheiten
I ch fand einen guten Platz im Garten – jenseits einer kleinen hölzernen Brücke, auf der ich die Schritte jedes nächtlichen Spaziergängers hören würde, der in meine Richtung kam. Eigentlich hätte gerade hier niemand überrascht sein müssen, eine Spiritistin bei der Durchführung eines Rituals zu sehen, nicht einmal um zwei Uhr nachts, aber die Leute mögen ihre Beschwörungen ordentlich und ansehnlich, mit blumigen Reden, Kräutern und Weihrauch. Ein echter Nekromant dagegen überschreitet die Grenze zwischen dieser und der jenseitigen Welt, und zu diesem Zweck brauche ich die Hinterlassenschaften des Todes.
Es gibt keine standardisierte Liste von Gegenständen, an die jeder Nekromant sich hält. Es ist eher wie ein Eintopfrezept – wir nehmen ein paar allgemein gebräuchliche Grundzutaten, probieren die Varianten aus, die in unserer Familie von Generation zu Generation weitergegeben werden, und fügen versuchsweise Elemente hinzu oder lassen sie weg, bis wir eine Kombination gefunden haben, die für uns persönlich ihren Zweck zu erfüllen scheint.
Als Erstes griff ich nach einem Stück von einem alten Grabtuch, ein Erbstück von meiner Großmutter, die immer behauptet hatte, es stamme von einem römischen Kaiser. Wenn Sie ein Fachgeschäft für Nekromantenbedarf betreten, stammt alles und jedes dort von einem römischen Kaiser – wenn es nicht gerade einer ägyptischen Königin oder einem afrikanischen Fürsten gehörte. Es kommt nicht drauf an. Die Stellung, die eine Person zu ihren Lebzeiten innehatte, hat keinerlei Auswirkungen auf den Gegenstand. Es geht hier nur um die bessere Geschichte.
Als Nächstes kam Verbene, eine Pflanze, die man verbrennt, wenn man Kontakt zu traumatisierten Seelen aufzunehmen versucht. Dann Hartriegelrinde und getrockneter Mate, um unerwünschte Geister fernzuhalten und zu vermeiden, dass versehentlich dämonische Wesenheiten mit beschworen wurden. In Erinnerung daran, wie dieser Geist sich aufführte, fügte ich eine Extradosis der Bannmischung hinzu.
Dann holte ich ein Büschel zusammengebundener Haare aus dem Beutel. Unterschiedliche Haare von verschiedenen Leuten in verschiedenen Stadien des Lebens, vom Kleinkind zum Rentner und von beiden Geschlechtern. Diese Haare stammten von Lebenden. Das ist der Vorteil bei Haaren – es handelt sich um tote Zellen, und so brauche ich sie nicht von den Toten zu nehmen.
Schließlich kamen die wirklichen Reliquien. Ein Fingergelenk. Ein Zeh. Ein Ohr. Knochenstückchen. Zähne. Die Knochen und Zähne waren alt, auch sie Erbstücke aus dem Besitz meiner Großmutter, und auch sie hatten angeblich eine abenteuerliche und ruhmreiche Geschichte. Bei den fleischlichen Überresten hatte ich so viel Glück nicht. Um wirksam zu sein, müssen sie frisch sein. Nun ist
frisch
im Zusammenhang mit verwesenden Leichen glücklicherweise ein relativer Begriff. Aber nach einem Jahr mussten sie dann doch verbrannt und ihre Asche der Asche in einer Urne beigefügt werden. Danach musste ich sie ersetzen.
Ich legte sie in der
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