Lockruf der Toten / Magischer Thriller
mit den Lippen »Muss gehen« und rief dann: »Tansy! Bitte. Wir bringen das nicht wieder zur Sprache. Komm zurück!«
»Schön«, seufzte sie. »Ich geh ja schon. Aber kann ich später mit dir reden?«
Ich zögerte. Wenn ein Geist einem mitteilt, dass er »reden« will, dann meint er damit, dass man irgendetwas für ihn erledigen soll. Aber Tansy hatte mir wirklich geholfen. Ich würde den Gefallen wahrscheinlich nicht erwidern können, aber ich konnte mir immerhin mal anhören, was sie zu sagen hatte. Also nickte ich, und sie verschwand.
»Ich weiß nicht, wie ich das noch übertreffen soll«, lachte Grady, als ich aus dem Blickfeld der Kamera trat.
»Ich fürchte, heute Abend wirst du dafür keine Gelegenheit mehr bekommen«, sagte Becky.
Gradys gutgelauntes Lächeln fror ein.
»Wir haben jetzt schon Überstunden für die Crew angesammelt, und das ist etwas, das ich Mr. Simon lieber nicht gleich am ersten Tag erzählen möchte.« Sie winkte Angelique näher. »Liebes, wenn du das nächste Mal Schwierigkeiten kriegst, versuch nicht, es zu erzwingen. Lass die anderen einen Versuch machen. Das ist nur fair.«
Angeliques Wangen liefen rot an. Ich hantierte mit meiner Abendtasche herum, als hätte ich nichts davon gehört. So behutsam der Tadel auch ausgefallen war, Becky hätte ihn unter vier Augen aussprechen sollen. Als darstellende Künstler müssen wir uns sowieso schon von Rezensionen und giftigen Blogeinträgen öffentlich kritisieren lassen. Niemand will mehr von dieser Sorte Kritik hören, als er unbedingt muss.
Wäre Becky erfahrener gewesen, hätte sie auch gewusst, dass es keinerlei Grund gab, Grady seinen Auftritt zu verweigern. Er war ein Profi. Er musste wissen, dass sein Auftritt nach meinem glanzlos schwach aussehen würde. Hätte sie einfach darauf hingewiesen, dass es schon ziemlich spät war, hätte er von sich aus angeboten zu verzichten.
Stattdessen fühlte Angelique sich gedemütigt und Grady herabgesetzt, Claudia war seinetwegen empört, und alle drei verschwanden, während Becky noch von meiner »umwerfenden« Leistung schwärmte. Ich hatte meine beiden Co-Stars gegen mich aufgebracht, festgestellt, dass in dem Garten ein boshafter Geist umging, und dem Geist eines Mordopfers falsche Hoffnungen gemacht. Und das alles am ersten Tag der Show, von der ich hoffte, sie würde meine Karriere einen entscheidenden Schritt voranbringen. Nicht schlecht für den Anfang.
Sobald ich in meinem Zimmer war, geriet mein Entschluss, mich wieder hinauszuschleichen und eine vollständige Beschwörung durchzuführen, ins Wanken. Ich sagte mir selbst, dass ich Tansy nicht enttäuschen wollte, falls sie dort draußen auf mich warten sollte. Was, wenn sie doch wusste, dass sie ermordet worden war, und von mir wollte, dass ich den Mörder fand? Mein Magen krampfte sich bei dem Gedanken zusammen.
Geister abzuweisen, die anderen etwas ausrichten wollten, war schwer genug. So gern ich auch gesagt hätte »Hey, sehe ich aus wie ein Paketservice?« – für einen Geist konnte ich die eine, unwiederbringliche Gelegenheit darstellen, seine Botschaft zu übermitteln. Selbst wenn es etwas vollkommen Banales war wie »Sag meiner Frau, dass ich sie liebe«, es bedeutete ihnen unendlich viel, und es tat weh, ihnen den Wunsch abzuschlagen.
Manchmal, wenn es einfach genug war, tat ich es sogar. Aber einen Mörder finden oder bestrafen? Ausgeschlossen. Das Übermitteln einer Botschaft zu verweigern war nichts im Vergleich mit der Aufgabe, einem ermordeten Mädchen zu erklären, dass ich ihren Mörder nicht seiner gerechten Strafe zuführen konnte, es nicht einmal könnte, wenn sie mir Namen und Adresse lieferte.
Trotzdem, früher oder später würde ich mich mit Tansy befassen müssen, und im tiefsten Inneren wusste ich, dass es Angst war, die mich von dem Garten fernhielt. Nicht Angst vor dem Geist, der mich geohrfeigt hatte, sondern Angst vor der Möglichkeit, dass mich eigentlich
niemand
geohrfeigt hatte. Dass ich schließlich doch noch den Verstand zu verlieren begann.
Wahnsinn ist die Kehrseite meiner Begabung. Eine Nebenwirkung, die mir von Jahr zu Jahr mehr Alpträume verursacht. Jeremy half mir, damit fertig zu werden. Er hatte selbst seine Erfahrungen mit übersinnlicher Wahrnehmung, und niemand ist besser darin, logische Argumente vorzubringen, als er. Nicht jeder Nekromant wird wahnsinnig, rief er mir immer wieder ins Gedächtnis. Ich hatte meine Kräfte schließlich niemals verleugnet oder
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