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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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Zeit lief rückwärts, ein Fluß, dessen Strömung sich vor einem Damm strudelnd umkehrt. Unter dem wirbelnden Wasser sah ich klar gezeichnet die Gesichter dieser drei Menschen. Ich hörte ihre Stimmen, als sprächen sie wahrhaftig in diesem Augenblick. Ich sah die unsichtbare dritte Person. Ich wußte jetzt, wer die Morde begangen hatte, doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Bis zu dem schrecklichen Ende mußte ich warten und zusehen, ehe ich aus der Vergangenheit heraustreten und in die Gegenwart zurückkehren durfte. Ich sah, wie die dritte Person plötzlich aus den Büschen rannte und sich auf meinen Bruder stürzte. Ehe ich meine Stimme fand, sauste blitzend ein Messer durch die Luft und traf Thomas’ Hals. Ich war wie gelähmt. Mein Vater drehte sich blitzartig um, schrie auf, taumelte rückwärts, als das Messer seine Brust traf. Etwas Rotes, der vertraute Rubinring, fiel zu Boden, nein, wurde zu Boden geworfen, rot wie das Blut, das in der Erde versickerte.
    »Mein Gott!« schrie ich plötzlich und schlug die Hände vor mein Gesicht. Schmerz, Entsetzen und nackte Angst schüttelten mich. Alles war wieder da, bis in jede Einzelheit, und es war so grauenvoll wie damals, wie vor zwanzig Jahren. Nur konnte ich diesmal weinen. »Colin!« schluchzte ich. »Oh, Colin, Colin!«
    Ich hörte die Schritte erst, als es zu spät war. Starke Arme schlangen sich um meinen Hals, eine mörderische Hand schwang das Messer. »Du bist verdammt wie sie alle!« flüsterte es heiser an meinem Ohr. Ich wehrte mich, schlug um mich, aber es half nichts. Ich hatte das Gleichgewicht verloren. »Du mußt sterben wie sie sterben mußten, damit das Übel nicht mehr weitergegeben werden kann.«
    »Nein, bitte – « stieß ich hervor, aber dieser unglaublich starke Arm drückte mir die Luft ab.
    Das Messer schwang hoch, hell blitzend vor dunklen Baumwipfeln und grauem Himmel, und sauste zu mir herunter.
    Jemand schrie laut auf. Ich hörte Keuchen und Stöhnen. Das Messer, das mich hätte treffen müssen, fiel zu Boden. Ich drehte mich blitzschnell um und sah Colin in tödlichem Kampf. Schon kamen die anderen. Und dann war es vorbei.
    Meine Großmutter lag auf ihrem Bett. Ihr Atem ging röchelnd. Ihr Gesicht war aschgrau, die Augen mit den stark geweiteten Pupillen wirkten übergroß. Dr. Young, der Augenblicke zuvor eingetroffen war, stand stumm und aufmerksam an ihrem Bett. Auch er war erstaunt gewesen über die Körperkräfte, die sie gezeigt hatte.
    Irgendwo im Zimmer sagte jemand immer wieder: »Es ist nicht zu fassen. Ich kann es nicht glauben.« Es war Theo, der auf der anderen Seite des Zimmers in einem Sessel zusammengesunken war und, die Hände vor dem Gesicht, unentwegt den Kopf schüttelte. Anna saß ihm gegenüber, totenbleich und wie versteinert. Martha stand neben Dr. Young, Colin und mir – auf der anderen Seite des Bettes – gegenüber. Ihr Gesicht drückte nichts als kindliche Verwunderung aus. Es war beinahe so, als hätte sie die Ereignisse der vergangenen Stunde noch gar nicht begriffen. Und Colin. Colin, der mir das Leben gerettet hatte. Er stand jetzt dicht an meiner Seite, den Arm um mich gelegt, und ich war froh, daß er mir Halt gab.
    Tonlos stieg die Stimme meiner Großmutter vom Bett auf. »Verdammt«, flüsterte sie. »Ihr seid alle verdammt. Es muß ein Ende sein…« Dr. Young neigte sich ein klein wenig zu ihr hinunter und fragte leise: »Wessen muß ein Ende sein, Mrs. Pemberton?«
    Obwohl meine Großmutter zu Tode erschöpft war, blitzten in ihren schwarzen Augen noch Feuer und Leben.
    »Es muß ein Ende haben mit den Pembertons. Es hätte schon lange ein Ende haben müssen. Aber keiner von ihnen hatte den Mut, ein Ende zu machen. Ein Teufelsfluch lastet auf der Familie und er wird immer weitergegeben werden, solange nur ein einziger Pemberton lebt.« Colin beugte sich näher zu ihr. »Du wolltest die Familie ausrotten? Wegen der Krankheit?«
    »Ich mußte es tun. Zu viele haben unter diesem Fluch gelitten. Jahrhundertelang – «
    »Und Onkel Henry?« Er trat von mir weg und ging näher ans Bett. »Hast du ihn auch getötet?«
    »Ich mußte es tun. Er war ein Pemberton.« Mein Blick huschte zu Dr. Young.
    »Wußte Sir John«, fragte Colin weiter, »daß du Robert und Thomas getötet hattest?«
    Die schwarzen Augen waren zur Zimmerdecke gerichtet, ihr Mund war geöffnet, sie hatte Mühe zu atmen. »Ich – ich kann wohl jetzt alles sagen«, stieß sie hervor. »Ja, Sir John wußte es. Henry,

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