Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
Spinnweben da oben an! Diese Wand ist … He!«
Lockwood hatte uns unsanft weggestoßen und hieb mit seinem Degen in die Luft. Als die Spitze die Mauer traf, sprühten gelbe Funken auf.
»Mist! Daneben! Jetzt ist er weg.«
Auch ich hatte meine Waffe gezogen. George dagegen hatte unter der Last seines Rucksacks und der schweren Ketten das Gleichgewicht verloren und war auf den Hintern geplumpst. Wir schauten uns beide hektisch um. Der Strahl meiner Taschenlampe malte wilde Kreise in die Dunkelheit, was den Eindruck hervorrief, als ob sich die Wände um uns drehten.
»Was war das, Lockwood?«, fragte ich.
Er strich sich schwer atmend das Haar aus den Augen. »Hast du ihn denn nicht gesehen?«
»Wen denn?«
»Er stand da. Direkt neben dir. Mann, war der schnell.«
»Lockwood …«
»Ein Mann. Er glitt plötzlich aus der Wand, aber nur das Gesicht und eine Hand. Es sah aus, als wolle er dich packen, Lucy. Ich glaube, es war ein Mönch. Sein Kopf war oben kahl. Sein Haar war in so eine Tonsir geschnitten.«
»Tonsur«, meldete sich George vom Fußboden.
»Tonsir, Tonsur, ist doch egal. Sah fies aus, der Bursche.«
Wir gingen wieder nach oben. Die Nebelschwaden waren ein Stückchen in die Bibliothek vorgedrungen, aber die Lampe brannte noch und die Erscheinungen hielten Abstand. Lockwood drehte das Licht ein bisschen hoch. Wir nahmen die Ketten von den schmerzenden Schultern, packten unsere Flaschen und den Proviant auf Fairfax’ Bibliothekstisch und ließen uns schweigend nieder. Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr.
Schon seit einer ganzen Weile verspürte ich einen kalten Druck auf der Brust, und ich nutzte die Gelegenheit, den Silberglasbehälter hervorzuholen. Ein zarter blauer Schimmer drang daraus hervor. Es war das erste Mal, dass der Schmuck des toten Mädchens fluoreszierte. Das hieß, dass ihr Geist noch aktiv war. Vielleicht reagierte er auf die vielen anderen Besucher hier im Haus, aber das Leuchten konnte genauso gut eine andere Ursache haben. Bei Geistern ist man leider meistens aufs Raten angewiesen. Auch fünfzig Jahre nachdem das Problem aufgetaucht war, blieben noch viele Fragen offen.
George hatte die Hauspläne auf seinen knubbeligen Knien ausgebreitet, las sich die Eintragungen durch und klopfte dabei mit dem Stift gegen seine Schneidezähne – ein Geräusch, das mich fürchterlich nervte. Lockwood aß seinen letzten Keks, stand auf und begutachtete mit der Taschenlampe in der Hand die Bücherregale. Draußen in der dunklen Eingangshalle erschien ein einzelner Geist, flackerte kurz auf und verschwand wieder.
»Ich hab’s!«, sagte George plötzlich.
Ich steckte den Behälter wieder weg. »Was denn?«
»Die Quelle. Ich weiß, wo sie ist.«
»Das wissen wir ja wohl alle. Im Roten Zimmer.« Es war ohnehin an der Zeit, dass das Thema zur Sprache kam, denn nach der Pause war das Obergeschoss dran.
»Kann sein«, sagte George, »muss aber nicht.« Er hatte die Brille abgesetzt und rieb sich müde die Augen. Als er die Brille wieder aufsetzte, war er wie verwandelt. Es ist wirklich komisch mit George. Ohne Brille wirken seine Augen klein und kurzsichtig, blinzeln ein bisschen verdutzt, wie die Augen von einem nicht sehr klugen Schaf, das sich verlaufen hat. Mit Brille wird sein Blick auf einmal scharf und unbestechlich, und er erinnert eher an einen Adler, der nicht sehr kluge Schafe zum Frühstück verspeist. Genau so sah er uns jetzt an. »Mir ist eben was aufgefallen«, verkündete er. »Die alten Pläne belegen es eindeutig und unsere Wahrnehmungen bestätigen es auch. Guckt mal hier.«
Er legte die beiden Grundrisse nebeneinander auf den Tisch.
»Das hier ist die Skizze der mittelalterlichen Klosterruine. Hier sieht man das Refektorium, aus dem später die Lange Galerie wurde. Die Räume im Obergeschoss waren die Schlafräume der Mönche. Nur noch ein Einziger ist erhalten – das sogenannte Rote Zimmer.«
»Hörst du überhaupt zu, Lockwood?«, fragte ich.
»Äh … doch …« Lockwood stand wieder vor der Fotowand. Er hatte ein großes Buch aus dem Regal genommen und blätterte eifrig darin.
»Auf der mittelalterlichen Zeichnung«, fuhr George fort, »gehen sowohl vom Roten Zimmer im ersten Stock als auch von der Langen Galerie im Erdgeschoss mehrere Flure ab, die es heute nicht mehr gibt. Sie führten zu verschiedenen Räumen auf beiden Etagen – eventuell weitere Schlafräume oder Vorratskammern oder Andachtsräume. Vermutlich war auch das Kellergeschoss damals größer,
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