Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
allerdings sieht man das auf der Zeichnung nicht. Aber wenn man sich den anderen Grundriss aus dem 19. Jahrhundert anschaut, sind alle diese zusätzlichen Räume verschwunden. Darauf endet der Westflügel an der Mauer, die so ungewöhnlich kalt ist.«
»Ungewöhnlich dick ist sie auch, oder?«, sagte ich.
»Das ist es ja gerade. Sie ist viel, viel dicker als die Mauer auf der mittelalterlichen Zeichnung. Sie erstreckt sich bis in den Bereich, wo früher Räume waren.«
Ein erregtes Kribbeln wie von einem leichten Stromschlag fuhr mir in den Magen und die Glieder. »Du meinst …?«
Georges Brillengläser blitzten. »Du hast’s erfasst! Ich spreche von Geheimkammern.«
»Du meinst also, dass manche Flure beim Abriss der Klosterruine erhalten blieben und anschließend zugemauert wurden? Das könnte gut sein. Was sagst du dazu, Lockwood?«
Keine Antwort. Als ich mich nach ihm umdrehte, hatte Lockwood noch mehr Bände aus den Regalen gezogen und sich völlig in sie vertieft. Er wandte uns den Rücken zu, seine Thermosflasche thronte auf einem hohen Stapel. Er trank gerade geruhsam einen Schluck Tee.
»Lockwood! Was zum Teufel machst du da?«
Endlich drehte er sich um. Er hatte wieder diesen seltsam abwesenden Blick wie vor unserem Aufbruch nach Combe Carey Hall. Als betrachte er etwas in weiter Ferne. »Entschuldige. Hast du was gesagt, Lucy?«
»Gesagt? Ich hab dich angebrüllt! Was treibst du da? George hat eine wichtige Entdeckung gemacht!«
»Ach so? Sehr schön … Ich sehe mir Fairfax’ Sammelalben an. Er hat Programmhefte, Eintrittskarten und Kritiken von allen Theaterstücken eingeklebt, in denen er als junger Mann mitgespielt hat. Total spannend. Zu seiner Zeit galt er als sehr talentiert.«
Ich traute meinen Ohren nicht. »Das ist doch jetzt völlig egal! Was hat das mit unserer Heimsuchung zu tun?«
»Eigentlich nichts … Ich hab nur so ein komisches Gefühl … Kann aber noch nicht recht greifen, warum.« Urplötzlich war sein Blick wieder wach, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. »Und du hast natürlich recht. Es gibt im Moment Wichtigeres.« Er kam wieder zum Tisch und klopfte George freundschaftlich auf die Schulter. »Was hast du da eben von Geheimkammern gesagt?«
»Geheimkammern oder Geheimgänge.« George rückte seine Brille zurecht, dann sprudelte es nur so aus ihm heraus. »Ihr wisst doch, was Fairfax über das Team von Fittes erzählt hat, das vor dreißig Jahren in diesem Haus ein schreckliches Ende gefunden hat. Der Berater und das Mädchen lagen tot im Roten Zimmer, der Junge war verschwunden. Ich habe aber noch nie gehört, dass Geister auch Menschenfresser sind, oder? Wo ist der Junge dann abgeblieben?« Er stieß den Wurstfinger auf den alten Plan des Herrenhauses. »Hier! Hinter dieser ungewöhnlich dicken Mauer! Er ist durch eine Geheimtür geflüchtet, aber ein Besucher – vielleicht sogar der Besucher – hat ihn erwischt und abgemurkst. Er ist immer noch irgendwo dadrin. Ich wette mit euch um drei von Arifs Schokodonuts, dass dort, wo seine Leiche liegt, auch die Quelle ist.«
Wir betrachteten den Plan in unserem kleinen Tümpel aus Licht, um dessen Ufer der Geisternebel schwappte. Lockwood hielt den Kopf gesenkt und verschränkte die Hände so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er dachte offensichtlich angestrengt nach.
»Alles klar«, sagte er dann. »Ich habe euch auch etwas mitzuteilen.«
»Hoffentlich geht es nicht wieder um Fairfax’ Alben«, entschlüpfte es mir.
»Nein. Hört zu. George hat mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Quelle der Heimsuchung von Combe Carey Hall ist vermutlich hinter dieser Mauer verborgen. Das heißt, wir müssen nach der Geheimtür suchen und die kann nur im Roten Zimmer sein. Ich gehe inzwischen davon aus, dass einige der Schauergeschichten über dieses Haus Humbug sind, die Sache mit der Seufzenden Treppe zum Beispiel. Mit dem Roten Zimmer ist das etwas anderes. Wir haben alle drei vor der Tür die Atmosphäre darin gespürt. Diesen Raum zu betreten, ist keine Kleinigkeit.« Er schaute uns nacheinander an. »Aber wir brauchen das Rote Zimmer nicht unbedingt zu betreten, das hat Fairfax selbst gesagt. Er ist schon zufrieden, wenn wir die Nacht im Haus verbringen, und hat uns bereits die Summe überwiesen, mit der wir die Forderung der Hopes begleichen können. Klar, wenn wir die Quelle aufstöbern, legt er noch ordentlich was drauf, aber die Agentur wird auch ohne dieses Geld weiter bestehen.«
»Ist
Weitere Kostenlose Bücher