Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
brauchte fast vierundzwanzig Stunden, Mr Lockwood, um meiner Annie eine improvisierte Gruft zu errichten, vierundzwanzig Stunden, die ich in fünfzig Jahren nicht vergessen habe. Ich musste ein geeignetes Versteck suchen, eine Öffnung in die Wand schlagen, Baumaterial ins Haus schaffen, und das alles unbemerkt. Die ganze Zeit lag die tote Annie neben mir, und ich fürchtete jeden Augenblick, entdeckt zu werden …« Der Alte schloss die Augen und holte zittrig Luft. »Aber ich schaffte es und habe seither mit der Erinnerung leben müssen. Doch trotz aller Sorgfalt hatte ich – welch bittere Ironie – das Medaillon übersehen! Ich hatte einfach nicht mehr daran gedacht. Erst nach ein paar Wochen fiel es mir wieder ein, und ich begriff, dass es mir womöglich eines Tages zum Verhängnis werden konnte. Meine Befürchtung bewahrheitete sich. Als ich den Artikel über Ihre Agentur las, ahnte ich, dass Sie die Kette bei der Leiche gefunden hatten und versuchen würden, den Fall aufzuklären. Ich ließ meine Beziehungen spielen und erfuhr, dass die Polizei noch nichts Näheres wusste. Daraufhin schöpfte ich wieder Hoffnung. Ich beauftragte Grebe, bei Ihnen einzubrechen. Als er mit leeren Händen zurückkehrte, musste ich mir etwas anderes einfallen lassen.« Er atmete pfeifend aus. »Leider haben mich auch die Geister von Combe Carey enttäuscht und ich muss die Sache selbst zu Ende bringen. Aber vorher hätte ich noch eine letzte kleine Frage. Was haben Sie mit meinem Medaillon gemacht?«
Keiner von uns antwortete ihm. Ich lauschte derweil mit all meinen Sinnen, aber im Haus war alles still. Die Besucher hatten sich zurückgezogen. Wir hatten es nur noch mit einem Mörder, seinem Handlanger und einer Schusswaffe zu tun.
»Ich warte!«, kam es von Fairfax. Dass er uns gleich töten würde, schien ihn nicht im Geringsten aus der Ruhe zu bringen.
Doch Lockwood wirkte mindestens genauso gelassen. »Danke, dass Sie uns Ihre Geschichte erzählt haben. Das war sehr erhellend, und zudem hat es uns geholfen, noch ein wenig mehr Zeit herauszuschinden. Ich hatte wohl noch gar nicht erwähnt, dass wir nicht mehr lange hier allein sein werden. Bei unserer Ankunft in Combe Carey habe ich unseren Fahrer gebeten, Inspektor Barnes von der BEBÜP eine Nachricht zu überbringen. In meinem Schreiben habe ich gewisse Andeutungen gemacht, die ihn garantiert haben neugierig werden lassen, und ihn gebeten, sich am frühen Morgen hier mit uns zu treffen.«
George und ich wechselten einen verblüfften Blick. Mir fielen der braune Umschlag wieder ein und das Bündel Scheine, mit dem Lockwood den jungen Taxifahrer bezahlt hatte.
»Der Inspektor sollte in Kürze hier eintreffen«, verkündete Lockwood fröhlich, lehnte sich zurück und verschränkte lässig die Hände im Nacken. »Mit anderen Worten: Das Spiel ist aus, Fairfax. Wir können es uns also genauso gut gemütlich machen. Wollen Sie Grebe nicht bitten, dass er uns einen Tee aufsetzt?«
Das Gesicht des alten Mannes bot keinen schönen Anblick: Hass, Furcht und Fassungslosigkeit gingen in Wellen darüber hinweg. Dann fing er sich wieder. »Sie bluffen doch bloß, und wenn nicht – wen kümmert’s? Bis irgendwer hier eintrifft, hat Sie Ihr Schicksal bereits ereilt, weil die Besucher leider kurzen Prozess mit Ihnen gemacht und Sie in den verfluchten Brunnen gestürzt haben. Barnes wird mich ganz aufgelöst vor Kummer vorfinden. Was soll er mir schon nachweisen? Also – ich frage Sie ein letztes Mal: Wo ist das Medaillon? «
Keine Antwort.
»Erschieß das Mädchen, Percy.«
»Halt!« Lockwood und George sprangen auf.
»Nicht!«, rief ich. »Ich sage alles.«
Alle Köpfe wandten sich mir zu. Fairfax beugte sich gespannt vor. »Na also. Hab ich’s mir doch gedacht, dass du die Erste bist, die einknickt. Raus mit der Sprache, wo ist das Medaillon? In welchem Zimmer habt ihr es versteckt?«
»Lucy …«, setzte Lockwood an.
»Das Medaillon ist nicht in der Portland Row«, sagte ich. »Es ist hier.«
Ich beobachtete den Alten, sah, wie sich seine Lider vor Ver gnügen ein wenig senkten und seine runzligen Lippen der Anflug eines zufriedenen Schmunzelns kräuselte. Und eben dieser Anblick, so flüchtig er auch gewesen war, öffnete mir ein schmutziges Fenster zu seinem wahren Wesen. Das verbarg er sonst hinter der Fassade des großspurigen Industriellen und auch hinter der Maske des reuigen Täters. Ich hatte in dieser Nacht in Combe Carey Hall eine Menge gesehen, aber das
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