Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
schlüssig und Ihre detektivische Begabung ist beachtlich. Die Zahlenfolge bezieht sich tatsächlich auf Hamlet. Ich habe Annie bei den Proben kennengelernt. Ich war der Dänenprinz, sie seine Verlobte Ophelia. Die Inschrift weist auf den zweiten Akt, zweite Szene und die Zeilen 115–118 hin, die da lauten:
Zweifle an der Sonne Klarheit,
Zweifle an der Sterne Licht,
Zweifl’, ob lügen kann die Wahrheit,
Nur an meiner Liebe nicht.
Der alte Mann schwieg und blickte ins Leere. »Das schreibt Hamlet an Ophelia«, setzte er dann hinzu. »Er will ihr versichern, dass seine Liebe zu ihr noch unerschütterlicher ist als die Gesetze des Universums. In dem Stück ertränkt sie sich zwar und er wird vergiftet, aber das ändert nichts an dem Grundgedanken. Alles dreht sich um Leidenschaft … und Leidenschaft hat auch Annie und mich verbunden.«
Ich machte zum ersten Mal den Mund auf. »Was Sie nicht davon abgehalten hat, sie umzubringen.«
Fairfax’ Augen waren ausdruckslos wie Kieselsteine, als er mich anblickte. »Sie sind noch ein Kind, Miss Carlyle. Davon verstehen Sie nichts.«
»Irrtum!« Jetzt ließ ich meiner Wut freien Lauf. »Ich weiß genau , wie es Annie Ward ergangen ist. Als ich das Medaillon in der Hand hatte, war ich sie!«
»Wie schön für Sie«, erwiderte Fairfax. »Ich habe mir immer gedacht, dass es eher ein Fluch als ein Segen sein muss, wenn man so sensibel ist wie Sie. Mich persönlich hat es noch nie gereizt, anderer Leute Todesqualen nachzuvollziehen.«
»Ich spreche nicht nur von ihrem Tod«, konterte ich, »sondern von allen ihren Empfindungen, während sie Ihre Kette trug. Von ihren Gefühlen! Ich weiß, was sie mit Ihnen durchgemacht hat.« Diese Erinnerungen waren mir noch sehr präsent. Ich konnte immer noch den Aufruhr des Mädchens spüren, ihre zügellose Eifersucht, ihre Trauer und Wut, und dann, ganz am Schluss –
»Was für eine alberne und unnütze Gabe. Aber dann wissen Sie ja auch, was für eine abgründige und schwierige Person Annie war. Sie war schrecklich flatterhaft und unglaublich launisch, aber bei alldem hinreißend schön. Wir sind gemeinsam in einer ganzen Reihe von Theaterstücken aufgetreten. Das war unser Vorwand, zusammen zu sein, denn unsere Affäre musste geheim bleiben. Annie hatte nicht die passende gesellschaftliche Stellung – ihr Vater war Schneidermeister oder so etwas, und meine Eltern hätten mich enterbt, wenn sie von unserer Beziehung erfahren hätten. Aber irgendwann bestand Annie darauf, dass ich mich öffentlich zu ihr bekennen sollte. Ich weigerte mich natürlich – was für eine abwegige Idee – und da verließ sie mich.« Er bleckte die blitzenden Zähne. »Eine Zeit lang flirtete sie mit Hugo Blake, aber ihr wurde bald klar, dass er ein Hohlkopf und ein Taugenichts war. Im Handumdrehen kehrte sie zu mir zurück.«
Er schüttelte den Kopf und seine Stimme wurde kräftiger: »Leider war Annie sehr eigensinnig. Sie schloss Freundschaften, die ich nicht guthieß, und sie traf sich immer noch mit Blake, obwohl ich es ihr verboten hatte. Wir haben uns oft deswegen gestritten und unsere Auseinandersetzungen wurden immer heftiger. Eines Abends ging ich heimlich zu ihr nach Hause. Ich hatte einen Schlüssel. Sie war nicht da. Ich wartete auf sie. Sie können sich vorstellen, wie wütend ich wurde, als ich sah, dass kein anderer als der Mistkerl Hugo Blake sie vor der Haustür absetzte. Kaum war sie zur Tür herein, stellte ich sie zur Rede. Wir stritten uns so wüst wie noch nie und irgendwann verlor ich die Beherrschung und schlug zu. Sie fiel leblos zu Boden. Ich hatte ihr mit einem einzigen Fausthieb das Genick gebrochen.«
Ich erschauerte. Todesangst und dann ein heftiger Schmerz … ich hatte es am eigenen Leib gespürt.
»Versetzen Sie sich bitte in meine Lage, Mr Lockwood. Der Erbe eines der größten Vermögen in England kniet vor der Leiche seiner Geliebten, die von seiner Hand gestorben ist. Was sollte ich denn machen? Wenn ich die Polizei rief, war alles aus. Mir drohte mindestens eine lebenslange Freiheitsstrafe, wenn nicht gar der Strang. Dann hätte ein unbeherrschter Augenblick zwei Menschen das Leben gekostet! Wenn ich ihre Leiche aber einfach an Ort und Stelle liegen ließ, hätte man mich trotzdem des Mordes überführen können. Vielleicht hatte mich ja jemand beim Betreten des Hauses beobachtet. Nein, das war zu riskant. Ich suchte nach einer dritten Lösung. Ich wollte die Leiche verstecken und alle Spuren verwischen. Ich
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