Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
elend mir zumute war. Das war eine Schwäche und Besucher stürzen sich mit Vorliebe auf Schwächen und Gefühle. Ein guter Agent braucht genau das Gegenteil: einen kühlen Kopf und unerschütterliche Nervenstärke. Mr Jacobs, mein früherer Arbeitgeber, hatte die Nerven verloren. Und was war passiert? Ich wäre beinahe gestorben.
»Und die Uhr?«, fragte ich betont kühl und sachlich.
Lockwood hatte mich scharf beobachtet. »Ach ja, die Uhr … Sie hatten ganz recht. An der Uhr kleben Spuren eines furchtbaren Verbrechens. Sie ist genau genommen ein Erinnerungsstück an meinen ersten erfolgreichen Fall.« Er machte eine Kunstpause. »Sie haben doch bestimmt von dem Mörder Harry Crisp gehört?«
Ich machte große Augen. »Meinen Sie etwa den Automaten-Mörder?«
»Äh … nein. Der hieß Clive Dilson.«
»Dann meinen Sie bestimmt den mit den Köpfen im Kühlschrank.«
»Auch nicht. Der hieß Colin Buchanan-Prescott.«
Ich kratzte mich am Kinn. »Dann habe ich anscheinend noch nie von dem Fall gehört.«
»Na so was!« Es klang fast gekränkt. »Das wundert mich aber. Gibt es im Norden keine Zeitungen? Jedenfalls ist es mir zu verdanken, dass Harry Crisp jetzt hinter Gittern sitzt. Ich war nämlich in Tooting auf der Jagd nach ein paar Geistern vom TYP ZWEI und da sah ich es in seinem Vorgarten überall leuchten. Die Behörden hatten den Todesschein übersehen, weil der schlaue Bursche nach jedem Mord Eisenspäne verstreut hatte, um die Geister zu knebeln. Später stellte sich heraus, dass er diese Uhr am Handgelenk getragen hat, wenn er seinen Opfern auflauerte. Er …«
»Essen ist fertig!« George beugte sich über das Treppengeländer. Er hielt eine Schöpfkelle in der Hand.
»Ich erzähle Ihnen die Geschichte ein andermal zu Ende. Wir müssen hoch. George kann es nicht ausstehen, wenn das Essen kalt wird.«
* * *
So rasch wie mir klar war, dass ich das seltsame Haus mochte, so rasch bildete ich mir auch eine Meinung über meine künftigen Kollegen. Und von Anfang an unterschieden sich diese beiden Meinungen grundsätzlich. Lockwood war mir ausgesprochen sympathisch. Er war so ganz anders als der unnahbare, unzuverlässige Mr Jacobs. Bei Lockwood spürte man sofort die persönliche Leidenschaft für seinen Beruf. Mit ihm konnte man bestimmt gut zusammenarbeiten, das spürte ich. Vielleicht konnte man ihm sogar vertrauen.
Aber George Cubbins? Nein. Er ging mir auf die Nerven. Ich unternahm an diesem ersten Tag heroische Versuche, ihn zu mögen, aber es überstieg meine Kräfte.
Wie er schon aussah! Irgendetwas an seiner Erscheinung weckte in mir die niedersten Instinkte. Bei seinem Ohrfeigengesicht hätte nicht einmal eine Nonne lange gezögert, ihm eine zu knallen, und sein Hintern schrie geradezu nach einem saftigen Tritt. Er schlurfte und schlappte durchs Haus oder fläzte sich in den Polstermöbeln, als stünde er kurz vorm Zerfließen. Immer hing ihm das Hemd aus der Hose, immer schleiften die Schnürsenkel hinter seinen übergroßen Turnschuhen her. Ich hatte schon wiederbelebte Leichen gesehen, die mehr Haltung hatten als George!
Und dieser wirre Haarschopf! Die bescheuerte Brille! Es war nicht zum Aushalten.
Außerdem hatte er die Angewohnheit, mich mit zugleich ausdruckslosem und nachdenklichem Blick anzuglotzen. Als würde er alle meine Fehler analysieren und versuchen vorherzusagen, wann ich mich das nächste Mal bis auf die Knochen blamieren würde. Doch bei unserem ersten Abendessen versuchte ich, höflich zu bleiben und der Versuchung nicht nachzugeben, ihm den nächstbesten schweren Gegenstand über den Schädel zu ziehen.
Als ich später am Abend aus meinem neuen Zimmer herunterkam, verweilte ich kurz im ersten Stock. Ich betrachtete die Bücherregale und die polynesische Geisterrassel … und plötzlich stand ich vor der Tür, von der Lockwood gesagt hatte, der Raum dahinter sei privat. An der Tür war nichts Auffälliges. Bis auf die helle Stelle in Kopfhöhe, wo jemand ein Schild oder einen Aufkleber entfernt hatte. Die Tür hatte offensichtlich kein Schloss.
Etwas hielt mich zurück, einfach die Klinke herunterzudrücken. Ich stand immer noch unschlüssig da, als George Cubbins aus seinem Zimmer kam. Er hatte eine zusammengerollte Zeitung unter dem Arm und warf mir einen misstrauischen Blick zu. »Ich weiß, was du gern tätest. Aber denk dran: Zutritt verboten.«
»Ach … du meinst die Tür hier?« Ich trat beiläufig einen Schritt zurück. »Warum darf man denn hier nicht
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