Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
herunter.
Lockwood ging voraus und bog in eine Seitenstraße ein. Sein weiter schwarzer Mantel wehte elegant hinter ihm her, darunter blitzte der Degen auf. George und ich bildeten die Nachhut.
»Das geht mir mal wieder alles zu schnell«, beschwerte sich George. »Du hast es immer so eilig! Ich bin gar nicht richtig dazugekommen, Recherchen über die Straße und das Haus anzustellen. Hätte ich einen Tag länger Zeit gehabt, wüssten wir jetzt mehr.«
»Ja, schon, aber auch Recherchen haben ihre Grenzen. Praktische Erkundungen sind durch nichts zu ersetzen. Außerdem dachte ich, der Fall wäre eine gute Gelegenheit für Miss Carlyle, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Vielleicht hört sie ja etwas.«
»Ein Hörender zu sein, kann gefährlich werden«, gab George zurück. »Weißt du nicht mehr, was letztes Jahr mit dem Mäd chen bei Epstein und Hawkes passiert ist? Gutes Gehör und außerordentlich sensitiv. Aber all die Stimmen, die sie gehört hat, haben sie in den Wahnsinn getrieben. Sie ist in die Themse gesprungen.«
Ich lächelte gezwungen. »Marissa Fittes hat die gleiche Gabe wie ich. Und die ist nirgendwo reingesprungen.«
Anthony Lockwood lachte. »Gut gekontert! Jetzt krieg dich wieder ein, George. Wir sind da.«
Mr Potter bewohnte eine von vier unscheinbaren, vergleichsweise modernen Doppelhaushälften in einer Straße, in der es sonst nur Reihenhäuser älteren Baujahrs gab. Der Garagenanbau hatte solide Ziegelwände und ein eisernes Schwingtor. Durch eine Seitentür gelangte man direkt in die Küche. In der Garage selbst kündeten drei alte, mehr oder weniger auseinandergeschraubte Motorräder von Mr Potters Hobby. An der Seite standen eine lange Werkbank und ein Werkzeugregal. Der Stapel Teekisten an der hinteren Wand enthielt überwiegend gebrauchte Ersatzteile und zerlegte Motoren.
Als Erstes fiel uns auf, dass die Werkbank und die Werkzeuge einigermaßen sauber waren, der Teekistenstapel dagegen war von oben bis unten mit frischen Spinnweben überzogen. Schimmernde Fäden hingen zwischen den einzelnen Kisten und reichten bis auf den Boden. Im Schein unserer Taschenlampen krabbelten dicke Spinnen geschäftig hin und her.
Wir verbrachten die ersten Stunden mit sorgfältigen Messungen und Beobachtungen. George ließ es sich nicht nehmen, auch noch den kleinsten Temperaturabfall innerhalb des Raumes zu notieren. Aber uns allen fiel die unnatürliche Kühle auf, die sich mit fortschreitender Stunde über den Raum senkte. Außerdem erhob sich ein schwacher Fäulnisgeruch. Kurz vor Mitternacht kribbelte plötzlich die Luft. Ich bekam eine Gänsehaut. Im hintersten Winkel der Garage, gleich neben dem Kistenstapel, tauchte eine Erscheinung auf, der nebelhafte Umriss eines erwachsenen Mannes. Die Gestalt gab keinen Laut von sich und rührte sich auch nicht von der Stelle. Wir hatten die Hände an den Gürteln, aber die Erscheinung machte keine Anstalten, uns anzugreifen. Nach zehn Minuten verschwand sie wieder und das Kribbeln in der Luft legte sich.
»Ein junger Mann«, sagte Lockwood. »In einer Art Lederuniform. Habt ihr das auch gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Im Schauen bin ich nicht so gut. Aber …«
»Ist doch ganz klar, was da los ist, Lockwood«, fiel mir George ins Wort. »Ich habe die Uniform auch gesehen und sie bestätigt meine allererste Vermutung. Das Haus ist neu. Die anderen Häuser in der Straße, die Reihenhäuser, stammen noch aus der Zeit vor dem Krieg. Früher stand hier also vermutlich auch eins dieser Vorkriegshäuser. Jetzt aber nicht mehr. Warum nicht? Weil es bei einem der Luftangriffe zerstört wurde. Die Bombe, die das Haus traf, hat vermutlich auch den Mann getötet, den wir gerade gesehen haben. Er ist also ein Blitzkrieg-Geist, vielleicht ein Soldat auf Heimaturlaub, und seine sterblichen Überreste liegen hier irgendwo unter uns.« George steckte demonstrativ seinen Kugelschreiber in die Brusttasche, dann nahm er seine Brille ab und putzte sie mit dem Hemdzipfel.
Lockwood war nicht überzeugt. »Meinst du wirklich? Aber ich kann nirgendwo Todesschein entdecken …« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Wenn du recht hast, wäre unser Klient bestimmt nicht erfreut. Er müsste die Garage abreißen lassen. Das wird teuer.«
George zuckte gleichgültig die Achseln. »Sein Pech. Er muss die Knochen finden. Was kann er sonst machen?«
Ich mischte mich ein. »Da bin ich anderer Ansicht.«
Beide schauten mich an. »Wieso?«, fragte George.
»Ich
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