Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
auszumachen. Das Einzige, was ich hörte, war viel existenzieller – das Schlagen meines Herzens, das Pumpen meiner Lungen.
Wie in aller Welt ist es hier reingekommen? Das Fenster war gesichert. Und das Zimmer lag eigentlich viel zu hoch.
Bleib ruhig! Denk nach. Gibt es im Zimmer irgendetwas, was ich als Waffe benutzen kann?
Nein. Mein Gürtel lag zwei Stockwerke tiefer auf dem Küchentisch. Zwei Stockwerke! Er hätte ebenso gut in China liegen können. Mein Degen, den ich in der Sheen Road verloren hatte, war ins Feuer gefallen und geschmolzen. Die Reservewaffen lagerten im Keller, also drei Stockwerke tiefer. Ich war völlig wehrlos. Wahrscheinlich flog auch noch woanders im Haus irgendwelche Ausrüstung herum, aber das nützte mir nichts, da das Wesen bei der Tür herumschwebte.
Oder etwa nicht. Ein Luftzug strich über mich hinweg. Ich erschauerte.
Weil ich auf dem Bauch lag, konnte ich den Kopf nur ein paar Zentimeter heben, ohne mich mit den Händen hochzustemmen. Ich sah nur ein Bein meines Bettes, Fetzen des grünlich weißen Geisternebels und ein Stück Wand. Mein Rücken war ungeschützt. Etwas hätte hinter mir herangeschwebt kommen können, ohne dass ich es gemerkt hätte.
Wie dunkel es auch war, ich musste einen Blick riskieren. Ich spannte alle Muskeln an, bereit, mich hochzustemmen.
Das Licht auf der Straße flammte wieder auf. Ich stemmte meine Arme in den Teppich, hob den Kopf und spähte über die Matratzenkante …
… und mir blieb fast das Herz stehen. Der Schatten befand sich nicht mehr neben der Tür. Nein. Er hatte sich in die Luft erhoben, langsam und leise, und schwebte jetzt über meinem Bett. Er verharrte in vornübergebeugter Haltung und befühlte mit seinen langen dunklen Fingern prüfend das warme Laken, auf dem ich eben noch gelegen hatte. Plasmafäden streiften die Matratze.
Hätte der Geist weiter umhergetastet, er hätte mich berührt.
Ich duckte mich wieder.
Das Bett in der Dachkammer war eigentlich reif für den Sperrmüll. Wahrscheinlich hatte Lockwood seine ganze Kindheit über darin geschlafen. Das Gestell wackelte und die Matratze war eine Hügellandschaft aus Dellen und Klumpen. Aber es hatte gegenüber den meisten modernen Betten einen großen Vorteil: Es hatte keinen Bettkasten. Unter dem Gestell war reichlich Platz für zerknüllte Taschentücher, Bücher, Staubmäuse und den kleinen Koffer, den ich von zu Hause mitgenommen hatte.
Und auch noch genug Platz für ein vorsichtig voranrobbendes Mädchen.
Ich weiß nicht mehr, ob ich auf dem Bauch unter das Bett kroch oder mich einfach drunterrollte. Ich kann mich auch nicht mehr dran erinnern, ob ich auf irgendwelchen Sachen landete und sie platt drückte. Ich glaube, ich stieß mir den Kopf, und offenbar riss ich mir auch die Pflaster von den Unterarmen, denn ich entdeckte die blutverkrusteten Dinger später auf dem Teppich. Es dauerte höchstens zwei Sekunden, dann war ich unter dem Bett hindurch und auf der anderen Seite wieder hinaus.
Wo sich etwas eisig Kaltes über mich legte.
Es war groß und weich und fiel von oben auf mich drauf. Ich schlug in Todesangst um mich – bis ich merkte, dass es nur meine Bettdecke war, die heruntergerutscht war. Ich schüttelte sie ab und rappelte mich hoch. Hinter dem Bett loderte grelles Anderlicht auf. Die dunkle Silhouette verwandelte sich in eine bleiche, magere Gestalt, die mit ausgestreckten Armen auf mich zugeschwebt kam.
Ich stürzte zur Tür, riss sie auf und stürmte blindlings die Treppe hinunter.
Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock prallte ich gegen das Geländer. Ein kalter Luftzug streifte meinen Nacken. »Lockwood!«, rief ich. »George!«
Lockwoods Zimmertür befand sich links von mir. Der Spalt darunter wurde hell. Ich rüttelte an der Klinke und starrte dabei über die Schulter auf das fahle Glühen, das langsam die Treppe herunterschwebte. Die Türklinke ließ sich zwar herunterdrücken, aber mehr nicht: Die Tür war abgeschlossen. Ich hämmerte verzweifelt dagegen. Um die Ecke des Treppenabsatzes streckten sich Finger, eine ausgestreckte bleiche Hand …
Die Tür ging auf, sanftes gelbes Licht blendete mich.
Auf der Schwelle stand Lockwood in einem gestreiften Schlafanzug und seinem langen dunklen Morgenmantel.
»Lucy?«
Ich drängte mich an ihm vorbei. »Ein Geist! In meinem Zimmer! Er kommt!«
Sein Haar war ein bisschen unordentlich, sein zerschrammtes Gesicht sah schmal und müde aus, aber wie stets bewahrte er Haltung. Er stellte keine
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