Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
Schmerzen, ich war hellwach, mich plagte das schlechte Gewissen – und viel zu kalt war mir auch. Ich musste mir eine zweite Decke aus dem Wäscheschrank im unteren Badezimmer holen.
Viel zu kalt …
Mein Herz stolperte plötzlich, als ich da so in meinem Bett lag.
Es war wirklich viel zu kalt.
Das hier war nicht die gewöhnliche klamme Novemberkälte, sondern eine Kälte, die den Atem in Wölkchen verwandelte, während man schlief. Es war die Art, die kleine kristallene Eisblumenmuster auf die Fensterscheiben zeichnete. Es war eine in jeden Winkel kriechende, tief in die Lungen dringende, schneidende Kälte, die mir nur allzu bekannt vorkam.
Ich riss die Augen weit auf.
Dunkelheit. Nur der Umriss des Gaubenfensters war zu erkennen und hinter den Scheiben der rötliche Londoner Nachthimmel. Ich lauschte, hörte aber nur mein eigenes Blut in den Ohren rauschen. Mein Herz schlug so heftig, dass ich glaubte, die Bettdecke müsse auf- und abhüpfen. All meine Muskeln zogen sich zusammen, ich nahm jede Kleinigkeit wahr, fühlte mit jedem Quadratzentimeter meiner Haut – den weichen Stoff des Nachthemds, das warme Laken unter mir, die Pflaster auf den Wunden. Meine Hand, die auf dem Kissen lag, zuckte unwillkürlich, die Handfläche wurde schweißnass.
Ich sah und hörte nichts, aber ich wusste es.
Ich war nicht allein im Zimmer.
Ein kleiner Teil meines Verstandes rief mir zu, ich solle fliehen. Wirf die schwere Decke ab, spring aus dem Bett. Was ich dann tun sollte, wusste ich nicht – aber alles war besser, als wehrlos dazuliegen und mit zusammengebissenen Zähnen gegen die Panik anzukämpfen.
Steh auf. Reiß die Tür auf. Renn nach unten … Tu was!
Ich blieb ganz still liegen.
Etwas sagte mir, dass zur Tür zu laufen vielleicht doch keine gute Idee sein könnte. Weil ich nämlich gesehen hatte … Was hatte ich eigentlich gesehen?
Ich wartete. Wartete auf das Licht.
Manchmal können drei Minuten eine lange, lange Zeit sein.
In den Tiefen der Geisterlampe und ihrer Schaltkreise unten an der Straßenecke sprang der Mechanismus an. Hinter den großen runden Linsen entzündeten sich die Magnesiumbirnen und tauchten die Straße in grelles weißes Licht. Hoch oben in meinem Dachfenster tauchte der Schein auf.
Mein Blick flog zur Tür.
Da! Der Kleiderhaufen auf dem Stuhl. Sein Umriss war schwarz und formlos, aber er war höher als sonst. Viel höher, als er hätte sein dürfen. Wenn ich alle Kleider aufeinandergetürmt hätte, die ich je besessen hatte, Röcke und Pullis unten und Unterwäsche und Socken obendrauf, wäre der Haufen nicht annähernd so hoch oder so schmal gewesen wie die Silhouette, die dort drüben im Dunkel neben der Tür stand.
Sie bewegte sich nicht. Das war auch nicht nötig. Ich lag wie festgefroren da und hielt dreißig Sekunden lang den Blick auf sie gerichtet. Wobei ich mich wirklich wie festgefroren fühlte. Die Geisterstarre hatte schon die ganze Zeit heimlich und leise von mir Besitz ergriffen, so verstohlen, dass es mir erst jetzt bewusst wurde.
Das Licht von draußen erlosch wieder.
Ich biss mir so fest auf die Lippe, dass es wehtat. Mit aller Kraft kämpfte ich gegen die Benommenheit und Willenlosigkeit an, die mich zu überwältigen drohten. Ich spannte alle meine schmerzenden Muskeln an, warf die Decke ab, rollte mich auf die Seite und ließ mich vom Bett auf den Fußboden fallen.
Dort blieb ich reglos liegen.
Die Nähte meiner Wunden pochten scheußlich, der Sturz war ihnen nicht gut bekommen. Aber immerhin war jetzt das Bett zwischen mir und der Tür … und dem Wesen, das neben der Tür lauerte. Nur darauf kam es im Moment an.
Ich schmiegte mich so flach es ging an den Teppich unter meinem Körper, den Kopf auf den Armen. Meine Füße und Beine waren der eisigen Luft ausgesetzt. Der Bettvorleger war überzogen von einem dünnen weißen Dunst, der leicht fluoreszierte: Geisternebel, eine Begleiterscheinung mancher Manifestationen.
Ich schloss die Augen, versuchte, mich zu beruhigen, und lauschte.
Aber was ein Kinderspiel ist, wenn man komplett bekleidet und ausgestattet ist, einen glänzenden Degen an der Hüfte, ist nicht ganz so einfach, wenn man in einem kurzen gelb-rosa Nachthemd auf dem Fußboden liegt. In Ausübung seines Berufes ein Heimgesuchtes Haus zu betreten, ist eine Sache, zu Hause im eigenen Schlafzimmer in zwei Meter Entfernung einen Toten stehen zu sehen, eine ganz andere. Darum gelang es mir auch nicht, irgendwelche übernatürlichen Geräusche
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