Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
entfernen, darum wurde der Ast abgesägt und im Salzfeuer verbrannt. Drei Tage danach ließen die Klienten den ganzen Baum fällen.
* * *
Als wir nach unserer Nachtwache wieder in die Portland Row kamen, stellten wir erstaunt fest, dass vor dem Haus ein Polizeiauto mit laufendem Motor und aufgeblendeten Scheinwerfern parkte. Als wir näher kamen, stieg ein BEBÜP-Beamter aus, ein großer, muskulöser Typ mit Stiernacken und rasiertem Kopf. Er trug die übliche nachtblaue Uniform. Ohne Begrüßung legte er los: »Lockwood & Co.? Mitkommen. Wir fahren zu Scotland Yard.«
»So spät noch?«, fragte Lockwood konsterniert. »Wir kommen gerade erst von einem Auftrag.«
»Mir egal. Inspektor Barnes will euch sprechen. Und zwar schon seit zwei Stunden.«
»Hat das nicht bis morgen Zeit?«
Die fleischige Pranke des Beamten wanderte an den Griff seines eisernen Schlagstocks. »Nein.«
Lockwood erwiderte mit blitzenden Augen: »Das haben Sie schön ausgedrückt, Sergeant. Also los!«
* * *
Scotland Yard ist nicht nur die Zentrale der Londoner Polizei, sondern auch der Sitz der BEBÜP-Truppen, die nächtens über das Wohl der Stadt wachen. Das keilförmige Gebäude aus Stahl und Glas befindet sich in der Innenstadt, auf halber Höhe der Victoria Street. Ganz in der Nähe haben sich die Totengräber-Innung und die Bestattergewerkschaft niedergelassen, ebenso die Fairfax-Eisenwerke, die Vereinigten Salzbetriebe und vor allem der Sunrise-Konzern, der fast alle Agenturen des Landes mit seinen Produkten beliefert. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befanden sich die Niederlassungen der meisten großen Religionen. Jede dieser mächtigen Organisationen befand sich im Zentrum des Kampfes gegen das Problem.
Vor dem Yard rauchten in Metallschalen Lavendelzweige und Rinnsale mit frischem Wasser strömten über den Bürgersteig. Zwei rotnasige Kinder standen Nachtwache neben dem Eingang, zum Schutz gegen jede übernatürliche Bedrohung. Sie präsentierten ihre Wachstäbe und nahmen Haltung an, als wir im Gefolge des Polizisten an ihnen vorbei und die Treppe zur Zentrale der BEBÜP hochgingen.
Wie immer nach Anbruch der Dunkelheit herrschte dort lebhafte Geschäftigkeit. An der rückwärtigen Wand hing ein riesiger Stadtplan von London, der mit Dutzenden blinkender Lämpchen übersät war, manche grün, manche gelb, jedes markierte einen der Notfälle dieser Nacht.
Männer und Frauen in schlichten Uniformen liefen hin und her, trugen Aktenstapel auf den Armen, telefonierten lautstark und erteilten den Beratern von Fittes und Rotwell Anweisungen, denn die großen Agenturen arbeiteten in zahlreichen Fällen mit der BEBÜP zusammen. Ein junger Agent rannte mit einem Bündel Degen unter dem Arm zur Tür hinaus und zwei Beamte mit qualmenden, von Ektoplasma versengten Schutzwesten tranken Kaffee.
Der stiernackige Polizist brachte uns in einen Warteraum und ließ uns allein. Hier war es einigermaßen ruhig. Die Eisenblech-Mobiles über unseren Köpfen drehten sich im Luftstrom der brummenden Klimaanlage.
»Was glaubt ihr, was er von uns will?«, fragte ich. »Ob es noch mal um den Brand geht?«
Lockwood zuckte die Schultern. »Ich hoffe, es gibt Neuigkeiten über Blake. Vielleicht haben sie ihn geschnappt. Vielleicht hat er schon gestanden.«
»Da wir gerade davon sprechen …«, George kramte in seiner Tasche, »wenn wir hier schon rumsitzen müssen, könnt ihr euch mal diese Ausschnitte aus dem Archiv anschauen. Ich hab mehr über Annie Ward herausgefunden. Scheint so, als habe sie vor fünfzig Jahren zu einer glamourösen Clique gehört – überwiegend reiche junge Leute, aber nicht alle –, die sich in den angesagten Bars von London traf. Ein Jahr vor ihrem Tod hat Die feine Gesellschaft eine Fotoreportage über sie gebracht. Schaut mal. Ihr Name ist nicht der einzige, der euch bekannt vorkommen wird.«
Die Bilder, Kopien der Originale, waren schwarz-weiß. Sie zeigten meist Partys und Bälle, aber auch Bars und Spielkasinos. Gruppen junger herausgeputzter Leute zierten jedes Bild. Mal abgesehen von der veralteten Mode, unterschieden sie sich kaum von denen in Lockwoods aktuellen Klatschzeitschriften, und waren genauso öde – aber als ich die dritte oder vierte Kopie betrachtete, stutzte ich plötzlich. Auf dem Blatt waren zwei Fotos. Das erste zeigte einen schlanken jungen Mann, der in die Kamera lächelte. Er trug einen schwarzen Zylinder, eine schwarze Fliege und einen pechschwarzen Smoking. Bestimmt hatte er
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