Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
Verzweiflung ergriffen. Mein Mund schmeckte bitter nach Verwesung. Ich nahm noch ein Pfefferminzbonbon, um den Geschmack zu vertreiben.
»Gut so«, sagte Lockwood. »Kann nicht mehr lange dauern.«
»Dass du die BEBÜP über Annie Ward informiert hast, ist ja gut und schön«, kam George wieder auf das vorige Thema zurück, »aber du hättest noch damit warten sollen, die Presse zu verständigen. Die Polizei hat ihre Ermittlungen noch gar nicht richtig aufgenommen. Man kann noch nicht absehen, wo das Ganze hinführt.«
»Klar kann man das. Barnes war nicht erfreut, dass wir ihm hinsichtlich Annie Wards Identität zuvorgekommen sind, aber ihre Beziehung zu diesem Hugo Blake fand er sehr interessant. Er hat sofort in seinen Unterlagen nachgeschaut. Es hat sich herausgestellt, dass Blake ein erfolgreicher Geschäftsmann ist, aber schon mehrmals im Gefängnis gesessen hat, ein paar Mal wegen Betruges und einmal wegen schwerer Körperverletzung. Ein übler Bursche. Und er lebt tatsächlich noch, hier in London.«
»Heißt das, er wird demnächst verhaftet?«, fragte ich.
»Das wollten sie heute tun. Wahrscheinlich hat ihn die Polizei bereits festgenommen.«
»Geisternebel voraus«, meldete George. Dünne Tentakel hatten sich vom Erdboden erhoben, weißlich schimmernd und dünn wie Spaghetti ringelten sie sich zwischen Weide und Gartenmauer empor.
»Hörst du was, Lucy?«, fragte Lockwood.
»Nichts Neues. Wind in den Bäumen. Und ein knarrendes Quiek, Quiek, Quiek.«
»Ein Seil vielleicht?«
»Kann sein.«
»Und du, George? Siehst du was?«
»Bis jetzt noch nicht. Und du? Hängt der Todesschein noch in der Luft?«
»Er hat sich nicht wegbewegt – wie auch? Er schimmert immer noch in der Baumkrone.«
»Kann ich ein Pfefferminz haben, Lucy?«, fragte George. »Ich hab meine vergessen.«
»Bitte sehr.« Ich reichte die Schachtel herum. Die Unterhaltung versiegte. Wir beobachteten die Weide.
Trotz Lockwoods hochgehängter Erwartungen hatte uns der Zeitungsartikel noch keine neuen Aufträge eingebracht. Mit der heutigen Nachtwache war der letzte alte Auftrag in Georges Buch abgehakt. Unsere Klienten waren ein junges Ehepaar, das sich immer wieder unwohl und verängstigt gefühlt hatte, wenn es den hinteren Teil seines Gartens betrat. Kürzlich hatten ihre Kinder (vier und sechs Jahre alt) erzählt, sie hätten, als sie abends aus dem Fenster schauten, eine »dunkle, reglose Gestalt« unter den herabhängenden Zweigen der Weide stehen sehen. Das war mehrmals vorgekommen. Die Eltern hatten jedes Mal ebenfalls aus dem Fenster geschaut, aber selbst nichts entdecken können.
Schon am Vormittag hatten Lockwood und ich das Gelände erkundet. Die Weide war sehr alt und ziemlich hoch, mit dicken, knorrigen Ästen. Wir hatten beide schwache Hintergrundanzeichen wahrgenommen: vor allem Miasma und eine zunehmende Beklemmung. George hatte derweil die Recherche zur Geschichte des Hauses übernommen und den ganzen Tag im Nationalarchiv zugebracht. Er hatte dabei ein merkwürdiges Ereignis entdeckt. Im Mai 1962 hatte sich der damalige Besitzer, ein gewisser Henry Kitchener, irgendwo auf dem Grundstück erhängt. Wo genau, war nicht verzeichnet.
Unser Verdacht richtete sich auf die Weide.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum du mich erwähnt hast, aber nicht die Halskette«, sagte ich. »Jetzt klingt es so, als hätte mir Annie Ward persönlich erzählt, wer sie umgebracht hat, was natürlich Blödsinn ist. Geister äußern sich niemals eindeutig.«
Lockwood lachte in sich hinein. »Das weiß ich selber. Aber es schadet nichts, wenn dich alle für ein Genie halten. Wir wollen doch, dass uns die Klienten die Tür einrennen. Ich habe die Halskette mit Absicht nicht erwähnt, teils weil ich mir das für den nächsten Artikel aufsparen will, teils weil ich Barnes auch noch nichts davon gesagt habe.«
»Du hast es Barnes nicht erzählt?«, fragte George ungläubig. »Nicht mal von der Inschrift?«
»Nein. Er hat uns immer noch auf dem Kieker, und dass Lucy verbotenerweise ein gefährliches Artefakt mit sich herumgetragen hat, macht die Sache nicht besser. Außerdem ist die Kette gar nicht so wichtig. Blake ist der Mörder, anders kann es gar nicht sein. Dabei fällt mir ein … hast du noch irgendwas Neues über Annabel Ward herausgefunden, George?«
»Ja. Ein paar Fotos. Sehr interessant. Ich zeig sie euch, wenn wir wieder zu Hause sind.«
Die Zeit verging. Es wurde immer kälter. Die Verzweiflung des ruhelosen
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