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Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)

Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)

Titel: Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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Selbstmörders quoll aus dem Geäst der Weide und legte sich über die Sträucher und Blumenbeete, über die Kinderfahrräder und das Spielzeug, das überall herumlag. Die langen Zweige schwangen hin und her, obwohl es windstill war.
    »Warum er das wohl getan hat?«, murmelte Lockwood.
    »Wer?«, fragte George. »Hugo Blake?«
    »Nein, ich dachte über diesen Fall nach. Warum der Mann sich erhängt hat.«
    »Weil er einen geliebten Menschen verloren hat«, sagte ich.
    »Wirklich? Wie kommst du denn plötzlich darauf? Das stand gar nicht in dem Artikel, oder, George?«
    Ich hatte an gar nichts gedacht und einfach nur dem Knarren in der Weide gelauscht. »Keine Ahnung. Vielleicht irre ich mich auch.«
    »Da drüben!«, sagte Lockwood plötzlich. »Da ist ein Besucher … Ja! Seht ihr ihn auch?«
    »Nein. Wo denn?«
    »Gleich da drüben. Kannst du ihn nicht sehen? Er steht unter dem Baum und schaut nach oben in die Äste.«
    Ich hatte die Ankunft des Besuchers auch gespürt. Die unsichtbaren Störwellen, die von ihm ausgingen, hatten das Blut in meinen Ohren rauschen lassen. Aber ich war keine so begabte Schauende, wie Lockwood einer war, und der Baum blieb ein Netz aus Schatten.
    »Er hat das Seil in der Hand«, sprach Lockwood weiter. »Er muss sehr lange dort gestanden haben, hat Mut gesammelt …«
    Manchmal hilft es, wenn man auf die Stelle gleich daneben schaut, wie bei nicht sehr hellen Sternen. Als ich meinen Blick auf die Gartenmauer richtete, nahm der Schatten unter der Weide auf einmal konkrete Form an: Ich sah eine blasse Silhouette, schmal und bewegungslos, hinter den herabhängenden Weidenruten gefangen wie hinter Gitterstäben.
    »Jetzt sehe ich ihn auch.« Ja, er schaute nach oben und legte den Kopf dabei so weit in den Nacken, als wäre sein Genick bereits gebrochen.
    »Schaut ihm nicht ins Gesicht!«, warnte George.
    »Ruhe bewahren«, sagte Lockwood. »Das ist die Hauptsache. Ich geh dann mal näher ran … Aaah! Irgendwas hält mich fest!«
    Mit leisem Klirren zogen George und ich gleichzeitig unsere Degen. Ich leuchtete mit der Taschenlampe zu Lockwood hinüber. Er war mit aufgerissenen Augen wie angewurzelt stehen geblieben.
    Ich knipste die Taschenlampe wieder aus. »Du bist mit dem Mantel an einem Stachelbeerstrauch hängen geblieben.«
    »Ach so. Danke.«
    George schnaubte. »Dieser Mantel! Er ist zu lang. Neulich hätte er dich beinahe umgebracht!«
    Es raschelte, als Lockwood sich aus dem Strauch befreite. Die Gestalt unter der Weide hatte sich nicht bewegt.
    »Gebt mir Deckung!«, kommandierte Lockwood.
    Er zückte die Waffe und schlich auf den Baum zu. Der Geisternebel legte sich um seine Beine und strudelte bei jedem seiner Schritte weißlich auf wie überkochende Milch. George und ich folgten ihm in einigem Abstand mit wurfbereiten Salzbomben.
    Wir näherten uns den vordersten Weidenruten.
    »Alles klar«, hauchte Lockwood. »Bin dicht dran. Er reagiert nicht. Nur ein Schemen.«
    Inzwischen konnte ich mehr sehen: die Silhouette eines Mannes in Hemdsärmeln, altmodischer Hose und Hosenträgern … Ein bleiches, nach oben gewandtes Gesicht. Ich sah ihn nicht direkt an, nahm aber den Nachhall seiner Trauer wahr, eine verlorene Liebe, abgrundtiefe Verzweiflung … und ich hörte ein kehliges Schluchzen.
    Dann bewegte sich die Gestalt urplötzlich. Eine Seilschlinge flog in die Weidenkrone hoch …
    … und etwas Helles sauste hinterher und zerplatzte. Ein Salzhagel ergoss sich über den Geist. Er krümmte sich und verblasste. Die Salzkörner fingen Feuer, loderten grün auf und fielen wie ein Regen aus funkelnden Smaragden zu Boden.
    Ich drehte mich zu George um. »Warum hast du das gemacht?«
    »Reg dich ab. Er hat sich bewegt. Lockwood war zu dicht dran. Ich geh kein Risiko ein.«
    »Er wollte nicht angreifen«, sagte ich. »Er war viel zu sehr damit beschäftigt, an seine Frau zu denken.«
    »Seine Frau? Woher weißt du das? Hat er das gesagt?«
    »Nein …«
    »Also wie …?«
    »Ist doch egal.« Lockwood schob die Weidenzweige zur Seite. Um seine Schuhe loderten die grünen Funken noch einmal auf und erloschen dann. »Er ist weg. Lasst uns Eisenspäne ausstreuen und nach Hause gehen, uns aufwärmen.«
    Manche Fälle sind so – schnell und einfach, im Handumdrehen erledigt. Am nächsten Tag wurde eine alte Seilschlinge, die tief in einen der oberen Weidenäste eingewachsen war, entdeckt, direkt über der Stelle, wo die Erscheinung aufgetaucht war. Das Seil ließ sich nicht vollständig

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