Löcher: Die Geheimnisse von Green Lake (Gulliver) (German Edition)
ganzen Staat Texas. Kindesmisshandlung. Widerrechtliche Inhaftierung. Folter.«
Der Mann war mehr als einen Kopf größer als die Frau und konnte über sie hinwegsehen, als er mit der Chefin sprach.
»Seit wann sind die beiden da drin?«
»Die ganze Nacht. Das sehen Sie doch daran, wie wir angezogen sind. Sie haben sich in meine Hütte geschlichen, als ich schlief, und mir meinen Koffer gestohlen. Ich habe sie verfolgt und sie sind auf den See gerannt und in ein Eidechsennest gefallen. Keine Ahnung, was sie sich dabei gedacht haben.«
»Das ist nicht wahr!«, sagte Stanley.
»Stanley, als deine Anwältin rate ich dir, kein Wort mehr zu sagen«, sagte die Frau, »bis du und ich Gelegenheit gehabt haben, uns unter vier Augen zu unterhalten.«
Stanley fragte sich, wieso die Chefin wohl diese Lügengeschichte mit dem Koffer erzählte. Er fragte sich, wem der Koffer wohl rein rechtlich gehörte. Das würde er gern seine Anwältin fragen, falls sie tatsächlich seine Anwältin war.
»Es ist ein Wunder, dass sie noch leben«, sagte der große Mann.
»Ja, das ist es wirklich«, antwortete die Chefin mit einer Spur von Enttäuschung in der Stimme.
»Und es wäre auch besser, wenn sie lebend hier rauskommen«, warnte Stanleys Anwältin. »Wenn Sie ihn mir gestern übergeben hätten, wäre das alles nicht passiert.«
»Es wäre nicht passiert, wenn er kein Dieb wäre«, sagte die Chefin. »Ich habe ihm gesagt, dass er heute freigelassen würde, und ich vermute, dass er daraufhin beschlossen hat, ein paar von meinen Wertgegenständen mitgehen zu lassen. Er hat die ganze letzte Woche Fieber gehabt und phantasiert.«
»Warum haben Sie ihn nicht freigelassen, als die Anwältin gestern zu Ihnen kam?«, fragte der Mann.
»Sie konnte mir nicht die richtigen Dokumente vorlegen«, sagte die Chefin.
»Ich hatte einen richterlichen Befehl!«
»Er war nicht beglaubigt«, sagte die Chefin. »Beglaubigt? Er war vom selben Richter unterzeichnet, der den Jungen auch verurteilt hat.«
»Ich brauche eine Beglaubigung vom Attorney General«, sagte die Chefin. »Ohne ein Schreiben des Staatsanwalts – wie soll ich da wissen, dass das Papier echt ist? Die Jungen in meinem Gewahrsam stellen erwiesenermaßen eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Soll ich sie einfach laufen lassen, nur weil irgendwer mir ein Stück Papier in die Hand drückt?«
Ja«, sagte die Frau. »Wenn es sich um einen richterlichen Befehl handelt, ja.«
»Stanley lag seit mehreren Tagen auf der Krankenstation«, erklärte die Chefin. »Er litt an Halluzinationen. Er schrie und tobte. Er war absolut nicht in der Verfassung, das Camp zu verlassen. Die Tatsache, dass er noch am Tag vor seiner Freilassung versucht, mich zu bestehlen, beweist doch –«
Stanley versuchte aus seinem Loch zu klettern. Er benutzte fast nur die Arme dazu, um die Echsen so wenig wie möglich zu stören. Als er sich hochstemmte, verzogen sich die Tiere weiter in die Tiefe, um den direkten Strahlen der Sonne auszuweichen. Stanley zog die Beine an und schwang sich über den Rand, und die letzte der Echsen sprang von ihm herunter.
»Gott sei Dank!«, rief die Chefin aus. Sie ging auf ihn zu, blieb aber gleich wieder stehen.
Eine Eidechse kroch aus der Hosentasche und an Stanleys Bein hinunter.
Stanley wurde es plötzlich schwindlig und er wäre fast umgekippt. Er konnte sich aber noch halten, bückte sich, packte Zero beim Arm und half ihm langsam auf die Beine. Zero hielt den Koffer noch immer fest.
Die Eidechsen, die sich darunter versteckt hatten, huschten schnell in das Loch.
Stanley und Zero stolperten davon. Die Chefin rannte auf sie zu. Sie umarmte Zero. »Gott sei Dank, dass du am Leben bist«, sagte sie und versuchte ihm den Koffer wegzunehmen.
Er riss ihn ihr aus der Hand. »Er gehört Stanley«, sagte er.
»Mach jetzt bitte nicht noch mehr Ärger«, warnte ihn die Chefin. »Ihr habt mir den Koffer aus der Hütte gestohlen und ich habe euch auf frischer Tat ertappt. Wenn ich auf einer Anzeige bestehe, kann es sein, dass Stanley wieder ins Gefängnis muss. Aber in Anbetracht der Umstände bin ich bereit –«
»Sein Name steht aber drauf«, sagte Zero.
Stanleys Anwältin schob den großen Mann beiseite, um einen Blick auf den Koffer werfen zu können. »Sehen Sie«, sagte Zero, »Stanley Yelnats.«
Auch Stanley schaute auf den Koffer. In großen schwarzen Buchstaben stand es da: STANLEY YELNATS.
Der große Mann blickte über die Köpfe der anderen hinweg auf den Namen
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