Löffelchenliebe (German Edition)
verstorbene Gattin, und wenn ich mir Fotos von Lenchen, Helene als junge Frau anschaue, kann ich ihn sogar ein wenig verstehen. Da liegt ein ähnlicher Ausdruck in unserem Blick, und die Proportionen von Augen, Nase und Mund ähneln sich.
Ich reiche David eine CD nach hinten, die Rosalie ihm gebrannt hat, er drückt kurz meine Hand, dann schalte ich das Radio ein.
»Schau, Richard, extra für dich: Oldie95.«
Aus den Boxen ertönt When I’m Sixty-Four von den Beatles, Opa Richard klatscht begeistert in die Hände. Okay, die Beatles erkenne ich auch noch. Überhaupt erscheint es mir bei Oldies und Schlagern um einiges leichter, den Sänger oder die Band zu identifizieren. Genauso finde ich Musik der Achtziger leichter zuzuordnen als die der Neunziger oder gar Zweitausender. Da gibt es einfach nicht mehr so markante Stimmen wie einst bei Modern Talking, The Police oder Queen. Und jetzt ist auch noch Michael Jackson tot.
Meine Mutter streckt ihren Kopf durch die Mitte nach vorne: »Na, die Beatles, das ist ja wohl eher meine Musik. Als dein Vater und ich jung waren, da waren wir sogar auf einem Konzert von den Pilzköppen. Da hättet ihr mich mal sehen sollen ! Wie ich in der ersten Reihe stand und meinen Büstenhalter auf die Bühne geschleudert habe, dem Paul Mäkaatnie genau auf seine Quadratlatschen. Dein Vater war entzückt !«
Opa Richard hält mitten im Klatschen inne und dreht sich langsam zu meiner Mutter um. Seine Haare stehen kreuz und quer in alle Himmelsrichtungen ab, und auf seinem Gesicht liegt ein einziges großes Fragezeichen.
In trauter Viersamkeit entladen wir den Wagen, David trägt die zwei Picknickkörbe, eine Kühltasche mit Getränken und die Platte mit den Fleischfrikadellen, meine Mutter ihre Handtasche, und ich spaziere mit einer Decke unter dem einen und Richard am anderen Arm durch den warmen Sand. Ich bin süchtig nach diesem schuhlosen Sommerfeeling.
»Herrlich !«, ruft der alte Herr und schließt die Augen. Er legt seinen Kopf tief in den Nacken und zieht einen Schwall Luft durch die Nase ein.
Vor uns erstreckt sich ein langer Sandstrand, der an diesem Abschnitt der Elbe fast wie eine Meer-Dünen-Landschaft aussieht. Möwen kreisen über unseren Köpfen, die Elbe spült winzige Wellen an den Strand, und ein Containerschiff tuckert gemächlich in Richtung Nordsee. Ein paar Kinder plantschen am Ufer, ein kleiner Junge pinkelt auf eine Sandburg, zwei Grüppchen haben einen Grill angeworfen, verstreut liegen einzelne Sonnenanbeter auf ihren Handtüchern. Opa Richard kämmt sich.
»Tuuut«, macht das Containerschiff.
»Tuuut«, echot Opa Richard und drückt dabei mit seinem Daumen auf Davids Nase. Der lächelt ihn an.
»Das hat er immer gemacht, als ich noch klein war«, flüstert mir David ins Ohr.
Wir breiten Decken und allerlei Utensilien aus, ein Picknickgeschirr mit hellblauen Vichy-Karos, das ich beim Preisausschreiben eines Balkonmöbelherstellers gewonnen habe, feinste vegetarische Kost Seite an Seite mit dicken Toasts Hawaii, Kartoffelsalat mit Mayonnaise und Speck und einer großen roten Plastikflasche mit Curry-Gewürz-Ketchup.
Meine Mutter lüftet den Deckel einer weiteren orangefarbenen Tupperdose. »Dein Lieblingssalat, Anna. Fleischwurstsalat.«
»Oh, danke ! Das ist aber lieb.«
Fleischwurstsalat ! Lecker mit Käsewürfeln, Gewürzgürkchen und Silberzwiebeln. Dafür lasse ich jede Grünkernfrikadelle stehen. Ich schaufle mir eine ordentliche Portion auf den Teller. Darben werde ich an anderer Stelle, funke ich in Gedanken und mit dem Anflug eines schlechten Fleischfresser-Gewissens David zu, der sich gerade eine Scheibe Haselnuss-Dinkel-Brot mit Tomatenbutter bestreicht. Wir lächeln uns an, und David gießt jedem ein Glas Weißwein ein. Richard bekommt weißen Traubensaft, den David vorab in eine Weinflasche umgefüllt hat. Kein Alkohol, hat Richards Arzt gesagt. Das gefällt dem alten Herrn überhaupt nicht.
Richard erhebt feierlich sein Glas und ruft: »Wie schön, dass wir so jung noch einmal zusammenkommen.«
Wir heben ebenfalls unsere Gläser und prosten einander zu.
»Ja, wirklich schön.« Meine Mutter steckt sich eine ganze Frikadelle in den Mund.
»Und das hier«, sagt Richard und hält sein Glas Saft in die Sonne, »ist ein ausgesprochen guter Tropfen.«
Ich unterdrücke ein Grinsen.
Einen Augenblick später schwankt das Glas in Richards Hand, ängstlich sieht er von einem zum anderen. Es ist, als wäre da für einen Moment überhaupt kein
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