Lösegeld am Henkersberg
vormittag war Alice
eingetroffen per Flugzeug — allerdings nicht mit dem, das die Sauerlichs
herbrachte. Frau Glockner holte das Mädchen ab, und inzwischen hatte Gaby ihrer
Brieffreundin sicherlich schon Tausenderlei über die Jungen erzählt. Eine ganze
Woche wollte Alice hierbleiben. In Gabys Zimmer war Platz genug. Und in der
Klasse 9b auch. Denn ab morgen sollte Alice dort als Gastschülerin mitmachen.
Tim fuhr langsamer und hielt.
„Statt sich umzusehen“, sagte Karl, „läßt
er den Kopf hängen.“ Gemeint war Klößchen.
Der mußte scharf bremsen, sonst wäre er
seinen Freunden in die Tretmühlen gefahren.
„Schläfst du ein?“ erkundigte sich Tim.
„So müde bin ich nun auch wieder nicht.“
„Wir sind hier, damit du die Augen
aufsperrst.“ Tim wandte den Kopf. „Siehst du die Lederjacken-Typen vor der
Bier-Bar? Ich wette, die dealen. Würdest du den Dieb wiedererkennen, wenn er
hier rumtapert?“
„Wiedererkennen sofort. Bei denen dort
ist er nicht.“
„Also weiter! Wir fahren durch die
Springflut-Gasse. Die haben sie für Autos gesperrt, weil sie so schmal ist.
Alle Hauseingänge führen in miese Kneipen. Und die mieseste ist die Wirtsstube
,Zum halben Ohr’. Die Stadtstreicher trinken dort ihren Fusel. Vielleicht ist
der Dieb...“
„Ich muß dich enttäuschen“, sagte Karl
rasch. „Wenn du deshalb hier bist, war’s umsonst. Mit dem ,Halben Ohr’ ist alles
anders geworden.“
„Was?“ Tim hob die Brauen.
„Ich verstehe immer: halbes Ohr“, sagte
Klößchen.
„So heißt das Lokal“, erklärte Karl. „Es
besteht seit über hundert Jahren. Der Wirt von damals war als rabiat bekannt.
Wer ihm nicht paßte, den schmiß er raus. Dabei kam es mal — so etwa um 1890 — zu
einer wüsten Rauferei. In deren Verlauf biß ein betrunkener Zecher dem Wirt das
halbe Ohr ab. Aber der überlebte den Verlust und taufte sein Lokal um. Vorher
hieß es: .Deutsche Treue“.“
„Und jetzt ist alles anders geworden?“
fragte Tim. „Was bitte?“
„Es stand in der Zeitung“, berichtete
Karl. „Der letzte Wirt hat verkauft. Und der neue — wenn ich mich recht
entsinne, heißt er Döbbel — hat das ,Halbe Ohr’ mit eisernem Besen ausgekehrt.
Der Name ist geblieben, aber die Gäste haben sich geändert. Stadtstreicher,
Penner und lichtscheue Typen werden nicht mehr geduldet, auch keine Punker,
Rocker und Asylanten (Obdachlose — auch aus dem Ausland). Der
neue Wirt spricht die Schicki-Mickis an, die Champagnertrinker.“
„Wußte ich nicht“, murmelte Tim. „Den
Lokalteil der Zeitung überfliege ich nur. Was einem da so entgeht! Fahren wir
trotzdem durch die Gasse!“
Sie war eng. Die hohen Häuser zu beiden
Seiten schienen sich zu berühren. Sonnenstrahlen fielen hier immer nur
vormittags ein: zwischen 10.34 und 10.38Uhr. Die Gasse schlängelte sich — so
wie man eben im Mittelalter gebaut hatte. Kneipen, kleine Läden. Frauen trugen
Einkaufsnetze und Plastiktüten. Tim wich einer Katze aus, die sich mit beiden
Pfoten das Gesicht wusch.
Schon von weitem sah er: Die Kneipe
hatte straßenseitig ein neues Kleid angelegt: eine gläserne Drehtür mit viel
Chrom, daneben ein Stück Wand aus violetten Glasbausteinen. Sie ließ keinen
Blick durch, nur Licht und Schatten. Passanten ahnten zwar, wie toll es dahinter
zugehen mußte; aber nur wer drin hockte, war Augenzeuge. Das Lokal selbst — Tim
kannte es vom Hineinschauen, wenn er vorbeiradelte — war ein langer, schmaler
Schlauch, der sich in der Tiefe des Hauses zu verlieren schien, jedenfalls im
düsteren Halbdunkel.
Neben der Tür hing ein Schild: HEUTE
RUHETAG.
Aber damit war’s auch schon vorbei mit
der Ruhe.
Etwa drei Radlängen trennten den
TKKG-Häuptling von der Drehtür, als die in Schwung geriet.
Ein Schatten — oder war’s ein
Kleiderbündel? — wurde herumgewirbelt. Nein, ein Mensch. Er flog auf die Gasse,
und jener, der ihn fliegen ließ, folgte dicht auf. Der erste landete
bäuchlings. Und so hart — Tim zuckte zusammen — , daß der Aufprall zu hören
war. Gesicht gegen Betonboden. Das Gesicht zog den kürzeren. Der Geschundene
rollte auf Hüfte und Schulter. Die Wange war aufgeschürft, blutete.
Tim war schon vom Rad gesprungen.
Was sich hier abspielte, lag auf der
Hand.
Offenbar hatte einer der ehemaligen
Gäste noch nicht gecheckt, daß im ,Halben Ohr’ jetzt andere verkehrten. Ohne
Zweifel gehörte der Mann am Boden gesellschaftlich zu der Gruppe Stadtstreicher
und Trunkenbolde, auf denen die
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