Loewenstern
nur noch ein Krieg bewahren. Sieht nicht danach aus. Sonst müßten auch Sie jetzt auf Ihren Schiffen sein. Statt dessen sitzen Sie im
Einhorn
wie ich – aber Sie haben zu tun, und Sie sind zu zweit. Ich habe nur zu lesen und bin allein. Mir bleibt Gulliver – was sonst?
Wenn Sie könnten, wie Sie möchten, was möchten Sie? fragte Rikord.
Löwenstern sah ihn lange an. – Wie delikat Sie sind, Pjotr Petrowitsch. Ich habe Ihren Übernamen in der Anstalt immer deplaziert gefunden. Sie sind sowenig ein «Tenor» wie Golownin ein Riese. Für mich waren Sie der «Seraph», er der «Cherub» – die kamen inder Sonntagsschule vor, und ich wußte nie, was ich mir darunter vorzustellen hatte, bis ich Sie sah. Darf ich bekennen, daß ich Sie herzlich beneidete?
Pjotr Petrowitsch hatte Sie etwas gefragt, sagte Golownin.
Die Antwort ist
Japan
, sagte Löwenstern. – Ich möchte nach Japan.
Unter dem Einhorn wurde es still; Löwenstern hob die Tasse zum Mund.
Sie fragen nicht, warum, und tun gut daran. Ich weiß es nicht. Aber ich denke, ich möchte nach Japan, um plötzlich ohne Frage zu wissen, warum ich da bin, sogar ohne Warum.
Sie haben viel im Sinn, sagte Golownin, Japan ist ein verschlossenes Land.
Was es darüber zu lesen gibt, kenne ich alles, sagte Löwenstern, für mich ist Japan ein wenig das, was der Große Ozean für Dawydow ist: das Ende der Welt, wo eine andere anfängt. Oder gar das Ende des Lesens. Ein großer Schritt. Ich bin nie über das Mittelmeer hinausgekommen.
Aber Sie haben uns zugehört.
Ich habe dabei sogar die Augen zugemacht. Es war manchmal so still, daß mir kein Wort entging, und Sie hatten vergessen, daß ich noch existierte.
Wo wohnen Sie? fragte Golownin.
Im Hause, sagte Löwenstern.
Im
Einhorn
? Hat es denn Fremdenzimmer?
Es hat
nur
Fremdenzimmer, sagte Löwenstern. – Green ist trickreich. Seine Gäste wissen nicht einmal, daß sie keine sind.
Was denn?
Anwesende, wenn es hoch kommt, lächelte Löwenstern. Green gibt mir ein Bett und hält mich frei. Wer nichts mehr hat, hat immer noch ihn. Ich bin gottverlassen genug, um wohl oder übel anwesend zu sein;
hinreichend
anwesend noch nicht. Aber jetzt bin ich Ihnen begegnet. Meine Verhältnisse scheinen sich zu bessern.
Was ist denn von der Geschichte des Insulaners zu halten? fragte Rikord.
Löwenstern lachte. – Green ist in diesem Haus so anwesend wieSie und ich. Gleich wird er hereinkommen, um Sie hinauszuwerfen. Sogar die Glücksritter am Roulette haben aufgegeben – oder hören Sie noch etwas? – Die Spielhölle ist ein Scheinbetrieb, sagte er, indem er sich vorbeugte, am Ende verlieren alle, auch Chlebnikow – und keiner weiß, wie das zugeht.
Green hat über seine wunderbare Heilung berichtet, sagte Rikord.
Wunderbar geheilt sieht er nicht aus, sagte Löwenstern, er ist ein
Misfit
, aber hinter seinen Geschichten steckt immer etwas Wahres.
Angeblich haben sie ihn auf einer Bahre hinausgetragen, sagte Rikord, um ihn in eine Höhle zu werfen.
Was Sie gesehen haben, ist ein Stück jenes Aberglaubens, der auf Nukahiwa gestiftet wurde, Gott weiß, von wem. Jedenfalls lange vor Green. Er ist als kranker Mann auf einer Insel gelandet, die von Tabus wimmelt. Einmal standen die tabuierten Gegenstände so dicht, daß sich die Leute nicht mehr zu rühren wagten. Es kam so weit, daß der freie Geschlechtsverkehr ganz unterdrückt werden sollte. Stellen Sie sich vor, was aus der Insel geworden wäre – sie wäre heute schon wieder unbewohnt. Da erfand ein vernünftiger Zauberer die «Lade der ungenannten Dinge». Auf dem Dorfplatz wurde ein tragbares Gerüst aufgestellt und mit Palmstroh bedeckt. Darunter steckte jeder Haushalt die Gegenstände, die jemand mit einem Tabu belegt hatte, aus Neid oder bösem Willen. Zum Glück haftet bei diesem Naturvolk alles an Gegenständen, was übrigens Goethes Entzücken erregt hätte – dem dürfen Gegenstände auch nie zu Objekten werden. Denn, sagt er, machen sie Menschen erst zum Subjekt, so verschwindet das rechte Leben aus beiden.
«Die Lade der ungenannten Dinge», soufflierte Rikord.
Sie wurde voll, fuhr Löwenstern fort, sie war fast schon überladen, und wenn das Zeug einmal drin war, sollte niemand mehr die Decke lüften – das war das definitive Tabu. Und wenn so viel zusammengekommen war, daß zwei Menschen – immer ein junges Paar – die Bahre eben noch tragen konnten, wurde sie einem heiligen Krater zugeführt und der Inhalt samt Decke unbesehen
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