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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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die Grenze des Großen Ozeans; seit einigen Jahrzehnten greift es nach dem nördlichen Amerika, und seine Hand wird immer blutiger. Die Kälte des Herzens macht sie unempfindlich gegen einheimische Völker, die sie noch erbarmungsloser drückt als das eigene. Wenn der Zar zehntausend Werst von Petersburg entfernt überhaupt ein Geschäft hat: muß er es von Schindern besorgen lassen, die Menschen die Haut über die Ohren ziehen wie Zobeln den Pelz? Das heilige Rußland soll sich eine Grenze setzen, die nicht jeder Lump oder Schuft ungestraft überschreiten kann, und zurZeit sind nur solche robust genug dafür. Es ist nicht nötig, daß wir Naturvölker mit der Knute bekehren; daß wir nichts verbreiten als Feuerwasser, Geschlechtskrankheiten und die Barbarei des schnellen Rubels. Bevor sich Rußland bis nach Amerika vergrößert, muß es in der Zivilisation angekommen sein. Die Neue Welt verlangt mehr alten Anstand.
    Doch der Ausgangspunkt meiner Zuschrift, Exzellenz, war eine private Erschütterung. Im vergangenen Sommer traf ich vor der Isaakskathedrale einen Mann mit Holzbein, den ich für einen Tataren oder Kalmyken hielt; einen Bettler jedenfalls, dem ich ein paar Kopeken zuwarf. Darüber schien er so erschrocken, daß er aufstehen wollte, schneller, als sein Gehwerkzug erlaubte. Ich mußte ihn halten, sonst wäre er gestürzt. Danach verbeugte er sich tief. Ich fragte, was ich denn für ihn tun könne, denn er war abgemagert bis auf das Skelett und fahl wie der Tod. Er verbeugte sich wiederum so heftig, daß ich nicht erriet, ob das ja oder nein zu bedeuten hatte, und fragte, wie er heiße. Er flüsterte einen russischen Namen und fügte hinzu: Aber ich bin Japanese. – Wie kommen Sie nach Petersburg? – Ich bin ein Schiffbrüchiger auf den Alëuten, viele Russen retten mich, denn Gott will mich leben lassen. – Welcher Gott? fragte ich. – Ihr und mein Gott im Himmel, sagte er, er sei gelobt. – Warum sind Sie nicht in Ihr Vaterland zurückgekehrt? – Gott will es nicht, und meine Landsleute auch nicht. Dann bin ich ein Gefangener. – Und hier sind Sie frei? – Ich erfahre unendliche Wohltaten.
    Sein japanesischer Name war Koichi, Fischer aus der Provinz Ise. Und wovon lebte er jetzt?
    Ich habe die Ehre, Lehrer zu sein. – Was lehren Sie denn? – Meine Sprache, sagte er, in Irkutsk. – Wer lernt Japanesisch in Irkutsk? – Meine russischen Freunde, auf Geheiß der großen Kaiserin, sie empfängt uns und befiehlt Professor Rakusuman, eine japanische Akademie zu gründen, in Petersburg. Jetzt ist sie in Irkutsk, und Professor Rakusuman erlaubt uns zu unterrichten.
    Von dieser «Akademie» hatte ich noch nie gehört, doch den Namen Laxmann erriet ich zur Not, denn die Aussprache des Japanesenwar höchst befremdlich. Noch verwirrender war sein Umgang mit Zeitformen, dem Vorher und Nachher von Ereignissen; er tauchte alles gleichmäßig in sein dürftiges Präsens, das vielleicht mit seiner überbordenden Frömmigkeit zu tun hatte. Für seine Augen ruhte jede Zeit gleichmäßig in Gottes Hand, und ich mußte mir Folge und Zusammenhang selbst zusammenreimen. Ich wußte, daß ein Laxmann als noch junger Mann Japan besucht hatte, im Auftrag der Zarin Katharina, und als ersten Schritt zu weiteren Handelsbeziehungen einige schiffbrüchige Japanesen mitgeführt hatte. Aber er mußte ihren Tauschwert überschätzt haben, denn die Japanesen nahmen sie nur schandenhalber zurück, und aus den gewünschten diplomatischen Beziehungen wurde – bei aller Höflichkeit – nichts, zumal Laxmann auch den Fehler begangen hatte, die Nordinsel anzulaufen statt den einzig erlaubten Hafen in Nagasaki, am andern Ende der Inseln.
    Warum sind Sie von Irkutsk den ganzen Weg nach Petersburg gereist? – Ich warte auf eine Audienz bei Seiner Majestät, flüsterte er und verneigte sich so tief, daß er sich gar nicht mehr aufrichten konnte. – Beim Kaiser? fragte ich; damals war es noch Paul, da konnte der arme Mann lange warten. – Wo sind Ihre Schüler? fragte ich. – Herr Professor Rakusuman ist gestorben, und wir haben keine Schüler mehr. – Warum lernen Russen eine Sprache, die sie niemals gebrauchen werden? konnte ich mich nicht enthalten zu fragen. – Gott weiß es, sagte er, wenn Er mein Land öffnet, werden gute Dolmetscher gebraucht, und ich weiß, daß ich nicht gut genug bin. Aber ich darf neue Schiffbrüchige nach Petersburg begleiten, da sind gewiß gute Lehrer dabei. Leider können sie noch kein Russisch. Ich

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