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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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bin der einzige. Und ich spreche die Sprache meiner Provinz, die verstehen auch die meisten Japanesen nicht. Ich stehe ihnen im Weg, die Russen müssen das richtige Japanesisch lernen. Darum bitte ich Seine Majestät, mich zu entlassen, damit wieder gute Schüler kommen.
    Wo leben denn Ihre Japanesen? fragte ich.
    Im Elefantenhaus, sagte er.
    Früher wurden hinter dem Taurischen Palast wirklich zwei Elefantengehalten, ein Geschenk des Schahs von Persien, aber Koichi bestätigte, daß sie den letzten Winter nicht überlebt hatten. Jetzt hausten Japanesen im leeren Elefantenstall und ernährten sich von seinen Vorräten; leider vertrügen sie nur das wenigste und seien sehr schwach geworden. Koichi könne immer noch gehen, darum gehe er jeden Tag zu Gott, um für die Seelen seiner Landsleute zu beten.
    Es war März, ein eisiger Wind fegte über den Platz, und die Hände des Mannes zitterten, wenn er das Kreuz, das an seinem ausgezehrten Hals hing, zu den Lippen führte. Er war ein gläubiger Christ geworden; schon aus diesem Grund war an Rückkehr nicht zu denken. Aber er durfte Gott auch nicht bitten, ihn zu sich zu nehmen, bevor er für einen Stellvertreter im fernen Irkutsk gesorgt hatte, der nicht alle Schüler vertrieb. Und unterdessen verhungerten die einzigen, die dafür in Betracht kamen, in einem leeren Elefantenstall.
    Ich glaube nicht, Exzellenz, daß ich je einem demütigeren Menschen begegnet bin, oder einem stolzeren. Keine russische Seele, denn es war nicht die Spur selbstverliebten Leidens an dem Mann. Er wollte seine Pflicht tun, ganz sachlich, um sich danach ebenso sachlich zu erübrigen. Er lebte nur noch von der eigenen Würde, und dabei war die armselige Gestalt von einer stillen Glorie umgeben, dem Leuchten vollendeter Scham. Niemanden zu beschweren, das war die Kraft, die ihn sein Kreuz tragen ließ. Es war nicht gutzumachen, daß ich ihn mit einem Bettler verwechselt hatte, denn
sich
verzieh er es nicht.
    Der dünne Schatten dieses Mannes, Exzellenz, lag auf dem Artikel, den Sie im
Political Register
gelesen haben und von dem Koichi kein Wort verstanden hätte.
    Mit seinem Bild will ich schließen. Der Morgen graut, aber ihr Nachtportier hat noch Dienst – und ich werde sehen, was die
Persönlichkeit
als Kurier wert ist.
    2 Bereits Antwort, nach nicht einmal zwölf Stunden – Sie müssen ganz in der Nähe sein. Logieren womöglich selbst im
Angleterre
? Sind Sie der graue Herr im Sessel, der gerade hinter der offenen Zeitung herüberblickt? Ich
zeige
mich, sonst hätte ich diesen Brief in der Suite geschrieben, die ich heute bezogen habe, nachdem mir der Hotelier in Person eröffnete:
irrtümlich
sei mir ein falsches Zimmer zugeteilt worden. Ich sei natürlich Gast des
Angleterre
, solange es mir beliebe.
    Befinde ich mich schon in Ihrem Dienst? Und was führt Sie nach Paris? Ich kann nur vermuten, daß Ihre schlanke Hand im allerhöchsten Auftrag die französische Karte spielt – verdeckt, wie sich versteht, unter dem Tisch, denn offiziell ist das Stillhalteabkommen der Mächte immer noch in Kraft. Der Erste Konsul muß Europa verdauen, bevor er den Rest der Welt in Angriff nehmen kann. Für Kurzsichtige sieht dieser Zustand wie Frieden aus. Wie sollte der bewaffnete Blick nicht weiter sehen, und welche Augen sollte der neue Zar dafür verwenden können als Ihre? Es bleibe Ihre Sorge, wie Sie Ihr starkes Licht in dieser überwachen Stadt unter den Scheffel stellen. Fouqués Spitzel sind pfiffig. In Frankreich gehört es ja inzwischen zum guten Ton, daß man sich selbst nicht mehr traut – wenn man denn noch weiß, wer man ist. Morgen schon Herr der Welt?
    Sie kennen meine Anglophilie. Sie ist so hartnäckig, wie sich hoffentlich die Engländer zeigen werden. Die Welt teilen, um sie zu beherrschen – mit Franzosen geht das nie. Sie selbst nennen sich unteilbar; wie könnten sie teilen!
    Die Runde meines Freundes Nogier trifft sich jeden Abend um fünf – er nennt es: die blaue Stunde – im
Café à l’Ecart
. Die Herren machen, im Dunst ihrer Zigarren, die Weltgeschichte unter sich aus, jeden Tag neu, doch immer mit einer abschließenden Meinung. Da diejenige von gestern niemanden mehr frappieren würde und da man auf Überraschung größten Wert legt, muß man auch imstande sein, sich selbst zu widersprechen – aber wehe, man tut es ohne Finesse!
    Nogiers Glatze brilliert schon von Natur. Er betrachtet sich als halben Russen, seit er in Gattschina als
Chef de cuisine
angestellt warund

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