Loewenstern
Ihnen als Lutheraner geläufig sein, doch unter Heiden liegt mir das Fremdwort näher: G
razie
.
Goethe über Schiller gut reden zu hören, rührte mich tief. Aber daß er mich russisch als Ermolai angeredet hatte, erschütterte mich geradezu, denn in seinem Mund klang es wie eine Zärtlichkeit, und fast hätte ich mir gewünscht, wirklich ein Russe zu sein. Wir streiften Gullivers Totenreich, das Goethe ein philosophisches Anfänger-Kompendium nannte, kamen dann auf die Insel der Zauberer, für die Swift tief in die Märchenkiste der Südseefahrer gegriffen habe; mit den Naturweibchen Herrn Forsters scheine er nochnicht bekannt gewesen zu sein. Immer, wenn Swifts verkehrte Welten nicht auf reale Erfahrung gründeten und sich ihre Bitterkeit zunutze machen könnten, gehe ihnen auch die künstlerische Energie ab, und sie verfehlten, uns zu durchdringen, sei es mit augenöffnender Schadenfreude oder abscheulicher Zustimmung. Dafür bedürfe es der
erlebten
Zweideutigkeit. Ich erlaubte mir, dem Dichter recht zu geben, auch im Punkte der Japanesen.
Wie kommen Sie auf Japanesen? fragte Goethe, sie spielen bei Gulliver doch gar keine Rolle. – Im höheren Sinne, entgegnete ich, habe er zweifellos recht. Aber im gewöhnlichen Sinne müsse ich widersprechen: Gulliver sei am Ende seiner Geschichte sehr wohl in Japan gelandet; er habe dem dortigen Kaiser ja einen Brief des Zauberhäuptlings zu bestellen gehabt. Die japanesischen Inseln seien sogar das einzige Stück vorhandener Topographie, das er, außerhalb Europas, auf seinen Reisen berührt haben wollte. Aber just aus den Gründen, die Herr Geheimrat genannt habe, fehle es diesem Besuch an Überzeugungskraft. Nichts sei unwahrscheinlicher als die kurze und schnelle Reise, die er ausgerechnet in Japan absolviert haben wollte, wo ein Fremder, schon zu Swifts Zeit, keinen Fuß auf den Boden hätte setzen können, ohne sogleich heimgeschickt zu werden oder gar mit dem Leben zu zahlen. Japan sei nicht nur ein verschlossenes, sondern ein verbotenes Land, in dem man nur reisen könne, wenn man Holländer sei, und auch dann nur mit schwerer Bedeckung und auf vorgeschriebenen Wegen. Denn nur den Holländern habe der Schogun, der sogenannte weltliche Kaiser, eine kleine Handelsstation eingeräumt, die man besser ein Gefängnis nenne, auf einer künstlichen Insel im Hafen von Nagasaki, den sie mit höchstens zwei Schiffen jährlich anlaufen dürften. Das sei das Nadelöhr, durch das sich der Welthandel notwendig ins Innere Japans zwängen müsse, und zugleich das Atemloch, mit dem das seltsame Reich seinen Stoffwechsel mit der Außenwelt bestreite.
Ich wunderte mich, daß Goethe von den Japanesen gar keinen Begriff zu haben schien. Warum die Holländer? wollte er wissen. – Die Japanesen haben das Christentum geächtet, sagte ich, und beiden Holländern sind sie sicher, unbehelligt zu bleiben, denn es sind trockene Leute, die fürs Geschäft keine Seele verlangen und kein Gewissen brauchen. – Allmählich wunderte sich Goethe, daß ich von diesen Japanesen solide Kenntnisse zu haben schien. Da Sie lebend vor mir sitzen, können Sie ja nicht wohl selbst dagewesen sein. – Ich gestand, daß ich mein Wissen leider nur Büchern verdankte, meistens solchen von Bergholländern.
Bergholländer? fragte Goethe mit hohen Brauen. – So nennen die Japanesen die Deutschen, sagte ich, die ihnen als Holländer eingeschwärzt werden mußten. Doch zweifle ich keinen Augenblick, daß die Japanesen die wahren Verhältnisse gekannt haben, denn sie sind ein unterrichtetes Volk mit einer überlegten Führung. Als solches schildern es gerade deutsche Verfasser wie Kaempfer, der die pflichtschuldige Reise nach der Hauptstadt Edo dafür zu nutzen wußte, sich unter der Hand von Land und Leuten ein genaues Bild zu machen. Gewiß haben sich auch ausgewählte Japanesen solche Bücher zu verschaffen gewußt und sich in diesem Spiegel gelesen. – Bergholländer! wiederholte Goethe, der Ausdruck schien ihn zu amüsieren, aber wie gut, daß doch nicht alle Deutschen Wolkenkuckucksheimer sind!
Auch das Verbot christlicher Mission hatte sein Interesse geweckt, und er hörte mit mephistophelischem Vergnügen, daß die Holländer, bevor sie japanesischen Boden betreten, Bibeln und Gesangbücher wie Gift oder Sprengstoff unter Verschluß halten mussten. Zum ersten Mal hörte ich Goethe laut lachen. Ein kluges Volk! sagte er. Ein merkwürdiges Volk. Wie kann es zivilisiert sein, wenn es ihm derart an Pietät
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